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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

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Hessen-Wahl: Die Realität der Massenmedien

— Soziologen, Politologen und andere Wissenschaftler haben sich des öfteren schon mit der Frage beschäftigt, was Massenmedien leitet und was sie abbilden. „Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir durch die Medien“, hat Niklas Luhmann festgehalten. Halten die Berichte der Medien dem Praxistest stand, ist die eine Frage. Sie muss sich immer mit ja beantworten lassen, weil die Medien ansonsten ihre Legitimation verlieren. Die zweite Frage aber ist, ob die Medien die wirklich relevanten Themen abbilden. Das ist zum einen wissenschaftlich schwer zu fassen. Zum anderen aber ist es bedeutsam, wenn es um das Agenda-Setting geht. Der Frage geht heute Wolf Schneider, Ikone in der deutschsprachigen Journalismus-Lehre, nach. In der Süddeutschen schreibt er:

Journalisten machen Moden mit – oft machen sie selber welche. Warum gingen Presse und Fernsehen gern auf Kochs Thema „prügelnde Ausländer“ ein? Weil es die Leute bewegt, natürlich, es hat mit Angst im Alltag zu tun. Weil das Überwachungs-Video im Münchner U-Bahnhof am 20. Dezember wirklich eine abscheuliche Prügelszene zeigte. Und weil es galt, Kochs politische Hinterabsicht anschaulich zu machen: ein Wahlkampfschlager in letzter Minute!

Das war er ja auch. „Ich glaube, dass Roland Koch eigentlich von Herzen froh war, dass dieser schreckliche Vorfall passiert ist“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Struck der Bild-Zeitung – eine Behauptung, die öffentlich aufzustellen in der Tat gegen die guten Sitten verstieß.

Sonst aber funktionierte alles so, wie Koch es sich gedacht hatte. Das Horror-Video vom 20. Dezember wurde im Fernsehen so oft wiederholt wie keine andere Bildsequenz seit dem Einsturz der Türme des World Trade Center. Und gern machte Bild sich die Kampagne zu eigen.

Wie das funktioniert bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung. Dazu sei auf den Bild-Blog oder den ausführlichen Artikel von Wolf Schneider verwiesen. Entscheidend ist etwas anderes:

„Agenda Setting“ heißt das in der Publizistik, die Tagesordnung bestimmen: entscheiden also, worüber berichtet wird. Mehr als die Leitartikel sind es die Schlagzeilen, die den Menschen sagen, worüber sie sich aufregen sollen.

Die gute Nachricht aus Hessen ist, dass der Agenda Setter dabei überziehen kann: Die späte Aufgeregtheit nahmen die Wähler dem Koch nicht ab, die Statistik hatte er ohnehin gegen sich – zwar sind die Ausländer unter jungen Serientätern überrepräsentiert, insgesamt aber sinkt die Zahl der Gewaltdelikte von Jugendlichen, der Anteil der Ausländer sogar überproportional.

Auch bei einem der widerlichsten Verbrechen, der gewaltsamen Tötung von Kindern, gehen die Zahlen zurück: Im Jahr 2000 wurden in Deutschland 160 Kinder umgebracht, 2006 waren es 104. Die Häufung besonders abstoßender Fälle – tote Babys im Tiefkühlschrank, fünf Kinder von der Mutter erstickt – rief eine jähe Aufregung hervor, ganz klar; nur wäre von der zu wünschen, dass auch sie kein Medien-Ereignis bliebe, sondern sich nachhaltig in jene „Kultur des Hinsehens“ verwandelte, wie Angela Merkel sie gefordert hat.

Hätte also ein Artikel geholfen, der geschaut hätte, ob es stimmt, was Roland Koch da an Behauptungen verbreitet hat? Vermutlich ja, aber Medien müssten dann jeder politischen Äußerung diese Sorgfalt entgegenbringen. Das wäre in der Tat viel Arbeit, die mit Sicherheit sehr oft die Glaubhaftigkeit politischer Aussagen diskreditieren würden. Es wäre aber im konkreten Fall auch Aufgabe der hessischen SPD gewesen, den politischen Gegner CDU zu entlarven. Aber Wolf Schneider identifiziert auch die nachrichtenarme Zeit als Grund dafür, dass Roland Koch mit seiner Kampagne – oder besser gesagt seiner Konstruktion von Realität – in den Medien verfangen konnte:

Der Einsicht, dass die Welt ein bisschen besser ist, als die Medien sie uns darstellen, steht zusätzlich eine journalistische Versuchung entgegen: das Alarmierende in eigener Regie zu produzieren, sobald die Nachrichtenlage dürftig ist. Da sind also zwei Kühe, die in Schleswig-Holstein am Rinderwahnsinn starben, am 25. November 2000 vielen deutschen Zeitungen einen Aufmacher wert – gewiss, in England hat die Seuche unter Tier und Mensch gewütet, jetzt besteht auch in Deutschland Grund zur Sorge.

Aber nun: Bis zum Januar 2001 in der SZ fünf BSE-Aufmacher, und ein Ausreißer ist sie damit nicht. Der Rindfleischkonsum sinkt um 41 Prozent, das halbe Fleischerei-Gewerbe geht in die Knie, und die Krone: In diesem Januar 2001 halten die Deutschen den Rinderwahnsinn für ein größeres Problem als ihre vier Millionen Arbeitslosen.

Starb in Deutschland ein Mensch an BSE? Nein. Wie viele Deutsche kamen 2006 bei Arbeitsunfällen um? 711. Durch Drogen? 1296. Im Straßenverkehr? 5339. Durch Haushaltsunfälle (vor allem Stürze alter Menschen)? 6455. Wie viele Aufmacher über diese vier Gruppen? Keiner. Stattdessen in der SZ vom 24. August 2001 der Fünfspalter: „Der Verbraucher neigt zur Hysterie – Dabei ist das Infektionsrisiko beim Rinderwahnsinn minimal“. Aha. Und dann die Vogelgrippe.

Wenn schon Politiker Kampagnen führen und Journalisten den Sachzwängen und Versuchungen ihres Berufs erliegen, so sollten die Mediennutzer die schlichte Wahrheit hochhalten: Das bei weitem häufigste Schicksal des Durchschnittsdeutschen ist es, nicht überfallen, nicht überfahren und von keiner Kuh mit Wahnsinn infiziert zu werden.

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