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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Alexander Nicolai: Der Unternehmer als Künstler

Warum gute Unternehmer auch Künstler sind

Im Mai 1977 dachten viele Kollegen, Abraham Zaleznik habe den Verstand verloren. Der ehemalige Harvard-Professor und Psychoanalytiker hatte einen unerhörten Artikel im „Harvard Business Review“veröffentlicht. Darin behauptete er, eine wahre Führungspersönlichkeit gleiche dem Künstler mehr als den kontrollierten, planvollen und zielstrebigen Helden der gängigen Lehrmeinung.

Die Aufregung im Professorenkreis ist auf den ersten Blick verständlich. In der Tat scheinen Management und Kunst nicht zusammenzugehen. Auf der einen Seite steht der kühle Profitmaximierer, der unter dem fahlen Neonlicht der Rationalität die Welt in kalkulierbare Stückchen seziert. Sein Credo lautet Effizienz. Bei Kunst kommt dem Manager bestenfalls eine lohnende Kapitalanlage in den Sinn, die möglichst schnell im Banktresor eingebunkert wird.

Der Künstler lebt in einer vollkommen anderen Welt. Hier riecht wirtschaftlicher Erfolg unangenehm nach kommerziellem Selbstmord. Wenigstens im sozialromantischen Kerzenlicht ist Kunst etwas, das aus den Entbehrungen der Armut geboren wird. Man denke nur an Spitzwegs Idyll des Schlafmützenpoeten in seiner verwahrlosten Dachkammer. Wenn man den nackten Zahlen glauben darf, dann hat sich nach Angaben des Münchner Ifo-Instituts bis heute an diesem Bild nichts wesentlich geändert. Das Durchschnittseinkommen selbständiger Künstler liegt bei etwa 19[th]000 Mark -pro Jahr, versteht sich. Ebnet das Schaffen des Künstlers doch einmal den Weg zu einem stattlichen Einkommen, dann in der Regel erst post mortem. So etwas nennt sich dann wohl „Künstlerpech“.

Gefangene des Lehrbuchs

Diese, in der Tat stereotypen Darstellungen sind Fluchtpunkte unseres Denkens. Oder besser gesagt: Irrlichter. Denn ein Unternehmen braucht immer beides, die Rationalität des Managers und das Schöpferische des Künstlers. Die Erkenntnis ist nicht neu. Zu Beginn des ausgehenden Jahrhunderts hat der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter diesen Gedanken populär gemacht. Der oft beschworene Schumpeter-Unternehmer ist im Kern ein Künstler und gerade deswegen der treibende Motor der wirtschaftlichen Entwicklung: „Er setzt den Daten gleichsam etwas hinzu. Er gibt ihnen neue Formen und stellt sie in neue Zusammenhänge, so wie das der große, schaffende Künstler mit den überkommenen Elementen der Kunst tut.“

Der Schumpeter-Unternehmer ist für viele der Kapitalist par excellence. Nur, Schumpeter konnte das Verhalten des Unternehmers nicht aus Rationalität und Profitstreben ableiten. Vielmehr beobachtete er, daß den Unternehmer die „Freude am Neugestalten“ und die „Neugier“ treiben, ökonomisch irrationale Beweggründe also. Das Gegenstück zum schöpferischen Unternehmer ist der dröge „statische Wirt“. Zwar sehr rational und effizient, bewegt er sich aber nur auf den bereits vorgezeichneten Bahnen des Wirtschaftskreislaufes.

Das irritiert ein wenig. Was soll an Rationalität falsch sein? Warum nicht so vorgehen, wie die Verfasser einschlägiger Lehrbücher nicht nur in Harvard unermüdlich predigen: Alternativen zur Zielerreichung aufstellen, bewerten, auswählen und den ganzen Vorgang sorgfältig kontrollieren. Der Organisationspsychologe Karl E. Weick illustriert das Problem mit einem kleinen Experiment: Zwei leere Flaschen werden mit ihren Böden zu einer Lichtquelle ausgerichtet. Ohne die Flaschen zu verschließen, gibt man in die eine Bienen und in die andere Fliegen. Im Streben nach dem Licht suchen die Bienen systematisch den Flaschenboden nach einem Ausweg ab. Immer und immer wieder betasten die eifrigen Insekten jeden Quadratmillimeter der unsichtbaren Barriere – so dauerhaft, bis sie an Erschöpfung sterben. Die Fliegen hingegen schwirren scheinbar planlos umher. Auf chaotischen Bahnen surren sie durch die Flasche, bis sie schließlich zufällig die Öffnung finden. Eine Fliege nach der anderen entkommt.

Der „statische Wirt“ geht vor wie die emsigen Bienen. Er scheitert daran, daß Alternativen nicht in Reih und Glied aufmarschieren und artig darauf warten, gewählt zu werden. Gefangen in unsichtbaren Denkbarrieren, geblendet vom Glanz des Profits, ist er nicht in der Lage, sich vom Hergebrachten zu lösen und grundlegend neue Alternativen zu erschaffen. In diese Falle tappen etwa jene Führungskräfte, die blind dem Shareholder value huldigen. Wer allein die täglichen Börsennotierungen als Leitstern besitzt, kann keine neuen Wege beschreiten. Gleiches gilt im Prinzip auch für die Wissenschaft. Albert Einstein konnte seinen Genius entfalten, weil er sich nicht ausschließlich von seinem großen Fundus an wissenschaftlich gesichertem Wissen hat leiten lassen. Er selbst behauptete von sich: „Dostojewski gab mir mehr als jeder andere Denker, mehr als Gauß.“

Bedürfnisse schaffen

Künstler und große Führungspersönlichkeiten passen sich nicht an äußere Gegebenheiten an, sondern schöpfen aus sich selbst und gestalten die Umwelt. Doch in den Köpfen vieler Manager scheint die Anpassungslogik bis heute zu dominieren. Frederic G. Donner, früherer Vorstandsvorsitzender bei General Motors, war ein Anhänger dieser reaktiven Vorstellung: „Um den Herausforderungen des Marktes zu begegnen, müssen wir rechtzeitig die Veränderung der Kundenbedürfnisse erkennen, um die richtigen Produkte, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge anbieten zu können.“

Exzellente Unternehmen sind kein Anpasser. Sie beherrschen nicht nur die Spielregeln des Wettbewerbs, sondern brechen mit ihnen. Anstatt reflexartig auf die vermeintlich vorbestimmten Marktzwänge zu reagieren, erschaffen sie neue Märkte. McDonald’s warf die Branchenweisheiten der Gastronomie über Bord. Der Siegeszug der Fast-food-Kette war keine Übersetzungsleistung bereits vorgefundener Bedürfnisse. McDonald’s hat die Konsumgewohnheiten der Gäste umgewälzt.

Edwin Land stimulierte mit der Entwicklung der Polaroidkamera erst das Bedürfnis der Kunden, nach einem Schnappschuß sofort das Ergebnis zu sehen. Seine Idee speiste sich nicht aus Marktinformationen, sondern war eine kreative Leistung. „Unser Mann der Tat“, schreibt Schumpeter, „folgt nicht einfach gegebener oder unmittelbar zu erwartender Nachfrage. Er nötigt seine Produkte dem Markte auf. Keine neue Maschine, keine neue Marke eines Genußgutes wird unter dem Drucke vorhandener Nachfrage erzeugt.“

Für die Wissenschaft erwies sich diese Art von Unternehmertum, man nennt es auch „Entrepreneurship“, als eine kaum zu knackende Nuß. Das Lieblingskind der Betriebswirtschaftslehre ist seit jeher der berechenbare „statische Wirt“. Der quirlige Schumpeter-Unternehmer fristet dagegen sein Dasein als ewige Randbemerkung. Er bleibt ein nicht faßbares Phantom. Im „Mann ohne Eigenschaften“legt Robert Musil dem Unternehmer Grundig die Worte in den Mund: „Wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten. Sondern wir -ich meine natürlich die führenden Leute: die Kleinen mögen immerhin unausgesetzt rechnen -lernen unsere wirtschaftlich erfolgreichen Einfälle als etwas zu betrachten, das jeder Berechnung spottet, ähnlich wie es der persönliche Erfolg des Politikers oder auch der Künstler tut.“

Aber selbst wenn sich der schöpferische Unternehmer in Formeln pressen ließe: Ein How-to-do-Buch nach dem Muster „Die zehn ehernen Gesetze des Entrepreneurs“ enthielte einen vertrackten Widerspruch. Es würde Regeln zum Brechen von Regeln aufstellen. Als „Kunstwerk“ zeichnet sich ein Unternehmen durch Einzigartigkeit aus. Mit einem Ratgeber, den jedermann in der Buchhandlung für ein paar Mark kaufen kann, ist nichts Einmaliges zu kreieren. Kein Mensch käme ja auch ernsthaft auf die Idee, einen Leitfaden zur Produktion von bedeutenden Kunstobjekten zu erstellen.

Noch eine weitere Ursache mag die Abneigung der Betriebswirtschaftslehre gegenüber dem Entrepreneur haben. Von Berufs wegen müssen Betriebswirte glauben, das Geschick eines Unternehmers fest im Griff zu haben. Die Beschäftigung mit der künstlerischen Dimension der Unternehmensführung läßt jedoch eine düstere Ahnung aufkommen: Hält etwa nicht das Management, sondern der Zufall die schicksalhaften Fäden in der Hand? In der Kunst besitzt der Zufall als Gestaltungselement eine gewisse Tradition. Die besondere Haltung von Michelangelos „David“ soll durch einen mißglückten Meißelhieb entstanden sein.

Das irrationale Moment

Die gegenstandslose Malerei entstand, als Kandinsky in der schummrigen Abendsonne zufällig ein auf dem Kopf stehendes Bild betrachtete. Duchamps wichtigstes Werk, „Das große Glas“, verdanken wir einem Transportunfall. Erst durch die zahlreichen Risse im beschädigten Glas wurde es vollendet. Die Dadaisten erhoben schließlich den Zufall zum Gestaltungsprinzip. Die Erfolgsgeschichten der Wirtschaft hören sich oft ähnlich an. Beispiel Pfizer: Innerhalb weniger Monate schoß das Pharma-Unternehmen dem Börsenwert nach auf Branchenplatz zwei in der Welt. Treibstoff für den raketenhaften Aufstieg war der Top-Seller des Konzerns: das Potenzmittel Viagra. Ursprünglich beabsichtigte Pfizer, ein Herzmedikament zu entwickeln. Als solches war Viagra ein Flop. Nach Ablauf von klinischen Tests wollten dennoch viele Probanden das Medikament nicht wieder herausrücken. Die Gründe hierfür sind bekannt, der Rest der Geschichte auch. Die enorme Chance, die sich plötzlich ergab, ergriff Pfizer beim Schopfe. In der Pharma-Branche prophezeit man Viagra den größten Umsatz, der je mit einem Medikament erwirtschaftet wurde.

Ein anderes Beispiel liefert die Firma Intershop des ostdeutschen Jungunternehmers Stephan Schambach. Mit mäßigem Erfolg installierte Schambach Computernetzwerke, hauptsächlich für Universitäten. Dabei war die aufwendige und unzulässige Bestellung von Computerteilen im Großhandel ein Dauerproblem. Als Serviceleistung bot Schambach daraufhin dem Großhandel eine Software an, die den Bestellvorgang automatisierte. Doch der Großhandel lehnte die fast kostenlose Software dankend ab. Erst jetzt war Schambach gezwungen, sein Programm anderweitig zu vertreiben. So stolperte der heute 27jährige unverhofft in den Wachstumsmarkt für Electronic Commerce. Inzwischen hat Intershop einen höchst erfolgreichen Börsengang hinter sich, besitzt weltweit Niederlassungen und schickt sich an, gegen die Branchenriesen Microsoft und IBM anzutreten.

Mag der Zufall auch eine Rolle spielen, auf der anderen Seite ist genauso klar: Ein Unternehmen im rauhen Wind des Wettbewerbs ist kein verträumtes Atelier. Und Fatalismus und Gottvertrauen sind der sicherste Weg, vom Markt weggefegt zu werden. Aber wie versorgt sich ein Unternehmen mit jenem notwendigen irrationalen Moment, aus dem sich das Künstlerische speist?

Eingeklemmt im Sandwich

Viele sagen, durch Intuition, Erfahrung oder moderner: Visionen. Doch so schön das klingt, visionäres Management ist eine Gratwanderung. Die Trennlinie zwischen dem unbedingten Glauben an eine intuitiv entworfene Vision und der fiebrigen Wahnvorstellung göttlicher Eingebung ist dünn.

Nur so viel ist sicher, der Eigentümer-Unternehmer, den Schumpeter vor Augen hatte, kann allein nicht mehr der Taktgeber der Wirtschaft sein. Heute wird der weitaus größte Teil des Unternehmenskapitals von angestellten Managern bewegt. In Zeiten kritischer Aktionäre, mächtiger Fondsmanager und bestens unterrichteter Kreditgeber ist diese Form der Unternehmensspitze beinahe genauso im Sandwich zwischen Oben und Unten eingeklemmt wie jeder andere im Unternehmen auch.

Ob Neugier und die pure Lust am Schöpferischen die angestellte Führungsriege treiben, glaubt niemand so recht. Es spricht einiges dafür, das Künstlerische auf alle Hierarchieebenen zu verteilen. In Unternehmen, die wie etwa auch Gehirne oder Gesellschaften dezentral organisiert sind, steigen die Chancen, den Zufall kreativ auszubeuten.

Noch ein weiterer Punkt wird zunehmend zur Gewißheit: Wenn Wissen mit schwindelerregender Geschwindigkeit um den Erdball rotiert, wenn die Lebenszyklen der Produkte immer kürzer werden und wenn selbst Hochtechnologie nicht mehr die unangefochtene Domäne einer Handvoll Industriestaaten ist, reicht für den nachhaltigen Erfolg kein einmaliger Geniestreich. Die „schöpferische Zerstörung“ ist eine Daueraufgabe. Das Unternehmen der Zukunft wird der Ort sein, an dem der kreative Funke des Künstlers auf das rationale Kalkül des Ökonomen trifft und das Feuer des Schöpferischen immer wieder entzündet.

Der Beitrag erschien erstmals 1998 in der Serie „Kunst als Avantgarde der Ökonomie: Neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Kultur und Wirtschaft“ im „Rheinischen Merkur“.

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