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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Jean-Christophe Ammann: Kunst und Kommerz

„Kultur für alle“ — eine Utopie? Wo bleibt die Kunst?

Dem Oberbegriff des Symposiums „Kunst & Kommerz“ soll in der Folge meine Aufmerksamkeit dienen, jedoch möchte ich einleitend kurz auf die Frage „Kultur für alle“ — ein Utopie? Wo bleibt die Kunst?“ eingehen.

Das Wort „alle“ bezeichnet im Zusammenhang hier eine Klasse von Menschen, der anscheinend der Zugang zur Kultur nur bedingt möglich war. „Kultur“ meint, weiterhin in diesem Zusammenhang, kulturelle Leistungen, dazu gehören auch die Kunstwerke, welcher Sparte sie auch immer angehören. „Kultur für alle“ ist der Titel eines von Hilmar Hoffmann 1979 publizierten Buches, das einen hohen charismatischen und pädagogischen Stellenwert besitzt. Der Begriff der „Utopie“ ist wie das (Indefinit-) Pronomen „alle“ nicht weniger durch eine verallgemeinernde, ja ideologisierende Dynamik geprägt. Man spricht beispielsweise vom „utopischen Horizont“. Mit dem Geist der Utopie ist das Prinzip Hoffnung verbunden. So Ernst Bloch, dessen Schrift „Vom Geist der Utopie“ 1918, das dreibändige Werk „Das Prinzip Hoffnung“ in den Jahren

1954-59 erschienen sind. Utopie ist eine Vorstellung, gleichsam außerhalb des Menschen. Die Hoffnung steckt im Menschen. Der visionäre, utopische Mensch ist bei weitem rücksichtsloser als der hoffende Mensch. Beuys beispielsweise hat diese Begriffe stets abgelehnt.

Der Kulturbegriff von gestern entspricht nicht dem Kulturbegriff von heute. Genauer ausgedrückt: Die damit verbundene Wertung und deren Ausrichtung ist eine andere. Vielleicht könnte man Kultur schlicht als den jeweiligen Stand einer Sozialisation bezeichnen. Auf die Frage im Titel zurückkommend, müßte es heute heißen: „Kultur für jeden einzelnen“, und diese Aussage wäre mit einem Ausrufezeichen zu versehen, dahingehend, daß jeder einzelne aufgefordert ist, die „Utopie“ in sich selbst zu realisieren. Die „Hoffnung“ dies tun zu können, müßte dann eher durch den Begriff „Glauben“ ersetzt werden, im Sinne des an sich selbst glaubens. Denn bekanntlich hofft man nicht auf sich selbst, sondern glaubt an sich selbst. Liest man François Furets großartige Studie über „Das Ende der Illusion“ (München 1995), dann wird einem klar, was die Ideologien, kraft ihrer Utopie, in diesem Jahrhundert bis in die 70er Jahre angerichtet haben. Durch die Vereinnahmung des Selbstwertgefühls haben sie die kollektive Identität über die individuelle gestellt.

Von der Geschichte dieses Jahrhunderts haben wir gelernt, individuell Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl in Einklang zu bringen. Das gleicht in Zeiten gewaltiger gesellschaftlicher Veränderungen oft einem „Ritt über den Bodensee“. Vergessen wir nicht: Auch die Avantgarden in diesem Jahrhundert konnten durchaus wie Ideologien funktionieren, denn sie schlossen mehr aus denn ein.

Auf die Frage: „Wo bleibt die Kunst?“, möchte ich antworten: Die Chancen der Kunst/der Künstler sind enorm, denn der Freiheitsbegriff, wenn er denn nicht auch beängstigend sein kann, war in dieser Form noch nie so umfassend vorhanden wie heute.

Zum Schluß dieser Einleitung ein Zitat von François Jacob, einem Biochemiker und Nobelpreisträger des Jahres 1965 aus seinem neuesten Buch „Die Maus, die Fliege und der Mensch“ (Berlin 1998): „Das zu Ende gehende Jahrhundert hat sich eingehend mit Nukleinsäuren und Proteinen beschäftigt. Das kommende wird sich auf die Erinnerung und die Begierden konzentrieren.“

Ich meine: besser könnte die Prognose für die Künste nicht sein.

Was meint die landläufig gebrauchte Formel „Kunst & Kommerz“? Vielleicht ist sie einfach ein Gerücht, weil seit dem Ende der historischen Avantgarden vor rund 25 Jahren, als eine bestimmte Geschichte der Kunst, des Theaters und der Musik in diesem Jahrhundert zu Ende ging, das einst utopisch angepeilte Horizontsegment zunehmend aufbrach und der künstlerische Wahrnehmungskreis sich zu einem Gesichtsfeld von 360° öffnete, mit der Konsequenz, daß alles möglich wurde. Fortan entstand Kunst nicht mehr nur in den einst stilbildenden Metropolen. Künstler arbeiten heute überall. Ich rede von den hochkarätigen Künstlern, den Forschertypen. Das „Schicksalsjahr“ 1975 konnte damals in seiner Bedeutung gar nicht wahrgenommen werden. (Vielleicht war es auch das Jahr 1973, das Jahr der Ölkrise, ein Jahr nach der alarmierenden Veröffentlichung des zweiten Berichts des Club of Rome.) Mitte der 70er Jahre setzte, so Leo Nefïodow, der 5. Kondratieffzyklus ein, der um das Jahr 2010/15 ausklingen wird. (Leo Nefïodow: „Der sechste Kondratieff – Wege zur Produktivität und Vollbeschäftigung im Zeitalter der Information“ Bonn 1997)

Der 5. Kondratieff ist als Langzeitzyklus – unabhängig von Konjunkturzyklen – durch die gesellschaftsrevolutionierende Basisinnovation „Informationstechnologie“ geprägt. Die zunehmende globale Vernetzung führte dazu, daß Information und Wissen mehr und mehr abrufbar wurden. Davon profitierten alle und natürlich genauso die Künstler. Der guten Ordnung halber wäre noch beizufügen, obwohl dies nicht direkt mit dem Thema in Verbindung steht, daß ab der Mitte der 70er Jahre erstmals eine Geschichte der Kunst von Frauen einsetzt. Sie sind es, die am meisten von der 68er Bewegung profitiert haben.

Die „Grenzen des Wachstums“, die Herausforderungen der Ökologie, die Zweifel an der Machbarkeit und die aus den Zwängen der stilbildenden Avantgarden befreite Kunst führten in den gesellschaftlichen Prozessen zu einer Selbstbefragung und zu einer Selbstreflexion, deren Kehrseite – und dies ist nicht negativ gemeint – zu einer „Ästhetisierung des Alltagslebens“ führte. Das opus magnum des Bamberger Soziologen Gerhard Schulze „Die Erlebnisgesellschaft – Kultursoziologie der Gegenwart“, 1992 erschienen, gründet auf Erfahrungen der 80er Jahre. Das Schlagwort von der Erlebnisgesellschaft wird heute bekanntlich auf alle Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung ausgedehnt, vom Erlebnisbad über den Erlebnispark bis zur Erlebnisgastronomie. Die Rede ist von einem inneren, befreiten Erleben, das zu einer maßgeblichen Größe wird. Das Schlagwort der „Fun Culture“ kommt nicht von ungefähr.

Nicht nur für die Konsumgüterindustrie, sondern für alle Wirtschaftszweige, die das freigesetzte Individuum in seinem Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl ansprechen, eröffnete sich ein neues, weites Feld.

Die Rezession in den frühen 90er Jahren, die Öffnung der Grenzen für den freien Kapitalfluß, sprich: Globalisierung, führte vielerorts zu einem Kollaps der Kommunen. Die Wirtschaft überrollte zusehends die Politik. Damit begann der Kampf um die bisher so großzügig staatlich geförderte Kultur, denn der „Sparschock für die Städte“ (so Joachim Becker, Oberbürgermeister von Pforzheim 1993) mußte sich unweigerlich als erstes in den Kulturetats auswirken. Zynisch gesprochen: Der Zeitpunkt war nicht schlecht gewählt, denn der in den 80er Jahren auf breiter Front einsetzende Ästhetisierungsschub hatte die Wirtschaft längst auf ein Individuum aufmerksam gemacht, das nicht nur unterhaltungshungrig, sondern auch bildungshungrig war. Als deutlich wurde, daß sich Bund, Länder und Kommunen langfristig mehr und mehr auf hoheitsrechtliche Bereiche zurückziehen werden, deshalb privatisieren müssen, wurde auch klar, daß jene Bereiche, die sich nicht privatisieren lassen, nämlich die kulturellen Institutionen, in hohem Maße von Dritten abhängig werden. Das Sponsoring trat ins Zentrum der Diskussion. Erst 1997 wurden bundesweit Kultur- und Sportsponsoring gleichgesetzt. Vorher konnte ein Finanzamt selbstherrlich die Verbindung eines Produktes bzw. dessen Herstellers als relevant oder irrelevant für die jeweilige kulturelle Institution beurteilen. Im Fall der Irrelevanz wurde auf die Spende verwiesen. Sponsoring jedoch beruht auf einer Gegenleistung des Gesponserten und kann von seiten des Sponsors als Betriebsausgabe voll aus Werbemitteln abgeschrieben werden. Ein Spender muß sich nicht „outen“, er kann ungenannt bleiben, der Sponsor und der Gesponserte müssen sich dagegen „outen“. Das ist das Spannende an „Kunst und Kommerz“, weil das Unternehmen öffentlich für etwas einsteht. Natürlich stellt sich sofort die Frage nach der Einflußnahme des Unternehmens. Grundsätzlich ist die Frage leicht zu beantworten: In der Palette von eigenen Vorstellungen und Vorschlägen wird sich das Unternehmen für das eine oder andere entscheiden, ohne jegliche Einflußnahme, denn proportional zur Einflußnahme verringert sich entsprechend die Vermittlungsintensität des Gesponserten. Daran kann einem Unternehmen nicht gelegen sein. Mit anderen Worten: Es ist einfach, bei vorhandenen Mitteln eine Ausstellung von Picasso, Matisse, Magritte oder Schiele zu sponsern, weil diese Künstler heute allgemein akzeptiert sind. Im Fall der „Künstlerförderung“ jedoch, die sehr viel weniger Mittel beansprucht, will ein Unternehmen sich der Kreativität in der Gegenwart öffnen.

Es gehört heute nicht nur zum guten Ton für ein Unternehmen, sich der Kultur und den Künsten zu öffnen. Das Augenmerk auf das Individuum setzt auch neue Akzente im Bereich der Kreativitätsforschung. Die Unternehmen haben längst erkannt, daß durch die Verflachung von Hierarchien und durch Dezentralisierung die schöpferische Eigenkompetenz des Einzelnen in einem Maße gefordert ist, die das Unternehmen aus sich heraus gar nicht leisten kann. So gesehen müssen die Ideen von überall her einfließen. Wer immer über einem Problem brütet und nicht weiter kommt, sollte sich vielleicht Bilder in einer Ausstellung, ein Theater, einen Film ansehen oder ein Konzert anhören. Und plötzlich wird er die Lösung für sein Problem haben, weil er (emotionale) Erkenntnisse aus dem Gesehenen / Erlebten zu extrapolieren weiß. (So ein Ingenieur der Siemens AG in einem Gespräch.)

Sponsoring bindet das Unternehmen ein, verpflichtet es gegenüber seinen qualifizierten Mitarbeitern. Letztlich muß es so sein, daß jedes Unternehmen die Künste als eine „operative Einheit“ in seine Philosophie integriert, weil das eingeforderte und eingebrachte Kreativitätspotential keine fach- oder bereichsspezifischen Grenzen kennt.

Berührungsängste sind stets eine Form des Selbstschutzes. Sie sind kontraproduktiv. Deshalb befürworte ich das Modell der public-private-partnership. Wenn heute ein neues Museum geplant wird, stellt sich diese Frage von selbst. Dies war nicht der Fall bei jenen Häusern, die in den vergangenen Jahren eröffnet wurden, denn ihre Planung geht bis in die 80er Jahre zurück.(Das Museum für Moderne Kunst wurde 1980 beschlossen und am 6. Juni 1991 eröffnet.) Es hängt von der Intelligenz der Planung ab, einen Bau so zu gestalten, daß der kommerziell genutzte Teil in keiner Weise mit dem Museum kollidiert, weder in der Erscheinungsqualität noch in der räumlichen, ausstellungsspezifischen Charakteristik. Die Mieten aus dem kommerziell genutzten Teil tragen dazu bei, die Betriebskosten des Museums zu senken. Voraussetzung für eine effiziente Betriebsführung ist allerdings die Aufhebung des kameralistischen Systems. Die Rede ist von einer alles verschlingenden Stadt- oder Staatskasse, die das Sparen deshalb obsolet macht, weil jeder am Ende des Jahres die noch zur Verfügung stehenden Gelder ausgeben wird. Damit im Zusammenhang steht auch die Notwendigkeit der Kompatibilität von Haushaltsposten. Für den Außenstehenden mag dies unverständlich klingen, weil ihm die Rigidität einer staatlichen oder städtischen Haushaltsbürokratie nicht einsichtig ist. Alle Einnahmen kommunaler oder landeseigener Museen müssen als zusätzliche Leistung honoriert werden, müssen von Jahr zu Jahr übertragen werden können, und dürfen nicht durch Verringerung oder gar Streichung von Ausstellungs- und Ankaufsetats, bestraft werden. (Dies ist beispielsweise der Fall in Frankfurt am Main, wo die Museen heute weder einen Ausstellungs- noch einen Ankaufsetat besitzen.)

Eines jedoch ist sicher: die unerbitterlichen Sparmaßnahmen haben die Museen gezwungen, sich zu öffnen. Ist eine Dinnerparty gegen Entgelt im schönsten Saal des Museums etwas Despektierliches? Natürlich soll diese im Zusammenhang mit einer Führung geschehen, damit die Gäste wissen, daß die Werke, die sie umgeben, Teil der abendlichen Tischgesellschaft sind.

Zähneknirschend lassen sich Museen jedoch nicht in gastfreundliche Häuser verwandeln. Dienstleistung ist hierzulande häufig immer noch ein Fremdwort, und Besucher werden häufig nicht als Gäste, sondern als Eindringlinge betrachtet. Museen müssen lernen, auf ihr Äußeres und ihr Inneres zu achten. Die gerade neu eröffnete Kunsthalle Bremen und das Städelsche Kunstinstitut in Frankfurt, dessen Eröffnung für 1999 geplant ist, sind exzellente Beispiele, wie durch eine Mischfinanzierung grundlegende Renovierungen ermöglicht werden. Die Besucher sind mit Recht anspruchsvoller geworden. Sie mögen verstaubte Museen nicht. Das heißt keineswegs, daß ein Museum in ein Disneyland umgestaltet werden muß. Aber die Präsentation von Werken und Ausstellungen, die den Standards der Ästhetisierung unserer heutigen Gesellschaft entspricht, ist unerläßlich.

Hinzu kommt etwas entscheidendes: Es gilt, die Werke als Wesen zu betrachten, ihre Kommunikationsfreudigkeit und Neugier zu befriedigen. Es gilt, Chronologien aufzubrechen und ungewohnte Begegnungen zu ermöglichen.

Meint ein Sponsor, er müsse auch noch in der Ausstellung selbst präsent sein, irrt er sich, denn seine plakative Präsenz wird unvermeidlich zum Bumerang.

Ich wiederhole die eingangs gestellte Frage: Ist der Ausdruck „Kunst & Kommerz“ ein Gerücht?

Daß Ausstellungen berühmter Künstler als „touristische Attraktion“ verkauft werden, stört mich überhaupt nicht, denn die Menschen entdecken die Kunst dieses oder eines vergangenen Jahrhunderts in einer Weise, wie dies vorher noch nie zu beobachten war. Mehrheitlich haben wir das Staunen verlernt. Wir staunen im Fernsehen ob dem „Tor des Monats“, aber ich habe noch nie so viele staunende Menschen gesehen wie in Ausstellungen anerkannter Meister. Manchmal gehe ich durch solche Ausstellungen nur, um mir die Gesichter anzuschauen.

Umgekehrt sieht man in Ausstellungen von Gegenwartskunst oft ratlose, manchmal auch verärgerte Gesichter. Halten wir fest: Jede Kunst war zu jeder Zeit ihres Entstehens erklärungsbedürftig. Daß es Museen für Gegenwartskunst gibt, ist eine Erfindung der letzten 20 Jahre. Eine in der Tat großartige Erfindung, denn weshalb soll ich viele Jahrzehnte warten, um die Produkte eines einstmals jungen oder jüngeren Künstlers als herausragend beurteilen zu können?

(Hätte ich van Gogh 1890 in Arles besucht, wäre mein Urteil vielleicht vernichtend ausgefallen …) Der Erklärungsbedarf von Gegenwartskunst kann nur durch Vermittlung kompensiert werden. Deshalb machen wir in unserem Museum auch über 1000 Führungen im Jahr. Die Menschen wollen die Gegenwartskunst kennenlernen, weil sie bestrebt sind, sich Erkenntnisse über das Denken von Gegenwart im Sinne des Schaffens von Welt anzueignen. Künstler vermitteln Sicht- und Denk-Schneisen im Sinne von Modellen, die nicht 1:1 übertragbar sind, deren Erkenntnisse aber sehr wohl extrapoliert werden können. – Im Kontext der Forderung nach Innovation sind alle angesprochen. Insofern sind Kunst und Kommerz, Kunst und Wirtschaft keine feindlichen Lager. Es ist jedoch unumgänglich, Aufgabenbereiche deutlich von einander zu trennen.

Anläßlich der Biennale von Venedig 1995 verschickte ich für die Ausstellung im deutschen Pavillon, für den ich zuständig war und erhebliche Mittel einwerben mußte, eine Einladungskarte, auf der das Auswärtige Amt als Auftraggeber, der deutsche Botschafter und die großen Unternehmen gleichwertig genannt wurden. Zusätzlich waren die Firmenlogos all jener Unternehmen abgedruckt, die geholfen hatten, die Ausstellung zu realisieren. Das war ein Sakrileg. In der von einem Unternehmen gesponserten Sendung „Aspekte“ des ZDF, wurde ich in Verbindung mit der Sponsorentafel am Eingang des deutschen Pavillons buchstäblich lächerlich gemacht. Mich hat das nicht gestört, denn mir war klar, daß an den einen die Geschichte (rasant) vorbeizieht, und die anderen sie in ihrer Umwandlung nachvollziehen und auch positiv erleben. Diese Aussage bewahrt auch ihre Gültigkeit für viele Bereiche in unserer Gesellschaft.

Daß Unternehmen Kunst in ihre Häuser integrieren, spricht für die Unternehmer und nicht gegen die Kunst. Oft hört man, daß die Werke damit der Öffentlichkeit entzogen würden. Ich bin da anderer Meinung, denn die vielen Mitarbeiter werden in den Prozeß der Meinungsbildung einbezogen. Sie, die vielleicht nie ein Museum der Gegenwartskunst besucht haben, verspüren die Neugier, mehr darüber zu erfahren. Führungen im eigenen Hause, gemeinsame Besuche mit Führungen in Museen, fördern die Bereitschaft, sich dem Fremden, Unbekannten zu nähern.

Kommerzialisierung ereignet sich dann, wenn sich die Kunst mißbrauchen läßt. Aber müssen wir uns über jene Künstler unterhalten, die dies so wollen? Ich weiß aus London, daß Galeristen spektakuläre Werke von jungen Künstlern zu einem hohen Preis anbieten, dem potentiellen Käufer gleichzeitig versichern, daß dieser das Werk eigentlich zum Nulltarif erwerbe, denn jegliche Nutzungsrechte seien mit dem Kauf verbunden und ließen sich bei Wiederverkauf auch übertragen.

Allgemein hat eine solche Vereinbarung keine Chance, denn sie würde bedeuten, daß der Künstler darauf erpicht wäre, nur Werke zu schaffen, welche der Vermarktung auf breiter Ebene dienlich wären. Man kann solches zwar als intelligentes Konzept gelten lassen, aber für die Kunst ist es letztlich irrelevant.

Die Rede von der Kommerzialisierung der Kunst ist die negative Codierung einer zunehmenden Akzeptanz von Kunst und deren Bedeutung. Wie so oft, nimmt man die Auswüchse zuerst wahr und verkennt die ungeheure produktive Dynamik der Kreativität vieler junger Künstler. Nicht alles ist Kunst, was sich heute als solche anbietet. Aber das wissen wir seit jeher.

Daß sich an Stelle der Avantgarden Trendbildungen herauskristallisieren, die nie mit der Funktion der Avantgarden in diesem Jahrhundert gleichgesetzt werden dürfen, erklärt sich aus den Mentalitätsräumen, die, je stärker Europa zusammenwächst, auseinanderdriften. Sie besitzen in gesellschaftsrelevanter Hinsicht einen symptomatischen Charakter, wie auch eine marktspezifische Dynamik. Sie sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil sie stimmungsabhängig, eher reagierender Natur sind als prospektiv agierend.

Daher ein Wort über die Kunst und den Künstler. Der Künstler erforscht sein Selbst aus einem Denken und einem Bewußtsein von Gegenwart heraus. Dieses Selbst ist wesentlicher Teil des Körpergedächtnisses, dahingehend, daß dieses Körpergedächtnis genetischer, biographischer, erinnerter und kultureller (kollektiver) Natur ist. Die Kunst ist so alt wie der denkende Mensch. Sie ist dem Menschen eigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Kontaminierung von Kunst durch Medien und der Medien durch die Kunst ein Phänomen der Ästhetisierung unserer Gesellschaft. Ich würde sagen: ein Oberflächenphänomen, das weder die Kunst noch den Künstler in seinem Kernbereich auch nur annähernd in Frage stellt. Daß eine junge Künstlergeneration, die mit den Medien aufgewachsen ist, diese auch als bildnerische Sprache einsetzt, versteht sich von selbst. Jedoch muß das Emphatische, das die sogenannten Neuen Medien auf ihrem Siegeskurs begleitet, auf deren Inhaltlichkeit überprüft werden. Da zeigt sich vielerorts eine eklatante Dürftigkeit, die durchaus verständlich ist, weil der technische und zeitliche Aufwand enorm ist und die inhärenten Möglichkeiten zuerst einmal erforscht werden müssen. Dennoch ergeben sich gerade hier Schnittstellen zwischen Kunst und Werbung, weil die Werbung Bilder schafft, die sich mit Bildern im künstlerischen Bereich überschneiden können (und umgekehrt).

Dem gleichen Phänomen begegnen wir in der Fotografie. Schaut man sich heute gewisse Modezeitschriften an, finden wir stupende Frauenporträts, die sehr viel stärker sind als die Kleider, die sie zur Schau tragen. Der Frauentypus ist die Botschaft, nicht deren Kleider oder Accessoires. Anders ausgedrückt: „Die Klamotten rennen hinter den Frauen her.“ Es geht hier nicht um die alte Geschichte, daß berühmte Fotografen auch Modeaufnahmen geschaffen haben (George Platt Lynes, Peter Hujar, Richard Avedon, …), es geht um die Tatsache, daß in der Modefotografie ein Typ von Frau geschaffen wird, der auch der Position der Frauen in unserer heutigen Gesellschaft entspricht. Das hat die Kunst in dieser Form bisher nicht geschaffen (vielleicht mit Ausnahme von Bettina Rheims). Gerade hier, würde ich sagen, wird die Verbindung von Kunst und Werbung / Kommerz produktiv, weil eine gegenseitige Befruchtung stattfindet, denn natürlich beziehen sich die Werbefotografen wieder auf Bildvorstellungen aus der Kunstgeschichte und der Geschichte der Fotografie.

Einen eklatanten Fall von Kunst und Werbung hat Oliviero Toscani für Benetton geschaffen, als er gezielt Reportagefotografien mit dem grünweißen Logo „United Colors of Benetton“ versah. Aus meiner Sicht wurden diese gigantischen Plakate in Deutschland völlig zu unrecht verboten. Wir haben im Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main diese Plakate in drei, über sechs Monate dauernden Perioden im Leseraum von Siah Armajani im Sinne eines „anschaulichen Lesematerials“ gezeigt. Toscani hat mit diesen Plakaten Geschichte geschrieben. Durch die intelligente Auswahl der Motive (Kriege, Katastrophen, Krankheiten, Ausgegrenzte, Flüchtlinge, Armut) hat er auf etwas für uns alle Verbindliches, Existenzielles hingewiesen. Daß dies, quer durch die Kontinente, über eine global agierende Bekleidungsfirma geschah, fanden viele Menschen abstoßend. Jedoch haben sie offensichtlich die Allgegenwart der uns täglich konditionierenden Werbung vergessen oder verdrängt. Sie konnten die unerhörte Stärke der Bilder und deren Kraft nur als Ausdruck einer nackten Instrumentalisierung, als reinen Zynismus empfinden. Da keine Zeitung, kein Fernsehkanal ohne Werbung existieren kann, hat Toscani schlicht und einfach Bild und Firmenlogo kurzgeschlossen, hat uns deutlich gemacht, daß wir ohne Werbung die täglichen Nachrichten und Hiobsbotschaften aus nahen und fernen Ländern gar nicht zur Kenntnis nehmen könnten. Was Toscani ausdrücken wollte: Das Benetton-Logo steht stellvertretend für Werbung überhaupt. Er wollte den Stellenwert von Werbung in unserer heutigen Gesellschaft dramatisch über herausragende Bilder deutlich machen.

Ein letztes Wort in Sachen „Kunst und Kommerz“ betrifft all jene Kommunen, die aus strukturellen Gründen Festspiel- und Musicalhäuser ins Leben rufen, um regional ein populistisches Bedürfnis, durchaus auf hohem Niveau, abzudecken. Vielleicht ist gerade hier die Verflechtung des Künstlerischen und Kommerziellen am stärksten ausgeprägt. Jedoch bin ich der Meinung, daß die Qualität das entscheidende Kriterium darstellt. Ob Operette oder Musical, die Performance muß höchsten Ansprüchen gerecht werden, denn sie wird vom fernsehtrainierten Zuschauer eingefordert, der das Ereignis „live“, gruppendynamisch, visuell und akustisch erleben will.

„Kunst & Kommerz“ ist ein Gerücht, von den Auswüchsen abgesehen. Wer immer nur die Auswüchse sieht, lamentiert über das halbleere Glas Wasser. Ich denke, wir sollten über das halbvolle Glas Wasser reden. Und noch etwas: Die Auswüchse gehen auf das Konto der Dummheit und Inkompetenz. Die Erfolge zeugen von gegenseitigem Respekt, von Sensibilität und Intuition für den mündigen Menschen, wohin auch immer er sich hingezogen fühlt.

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