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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Boris Groys: Kunst als Avantgarde der Ökonomie

Das Kunstsystem fühlt sich heutzutage etwas unwohl. Seinen Repräsentanten fällt es zunehmend schwer, sich vis à vis der Außenwelt mittels der traditionellen Legitimationsstrategie zu behaupten, der zufolge die Kunst etwas besonders wertvolles, exklusives und erhabenes darstellt. Der Anspruch der Kunst auf die gesellschaftliche Exklusivität wurde lange Zeit durch die Behauptung begründet, daß im Kunstsystem Dinge hergestellt, ausgestellt, verkauft, gekauft und kommentiert werden, die von besserer Qualität sind, als alle anderen Dinge. Kunstwerke sind demgemäß Unikate, die allein dafür geschaffen werden, bewundert zu sein – und nicht, wie alle anderen Dinge, bloß im Arbeitsprozess oder im Alltag benutzt zu werden, um am Ende ihrer Tage im Müll zu landen. Die Kunstwerke bilden traditionell sozusagen eine Aristokratie unter den Dingen.

Die Qualität eines Kunstwerks wird dementsprechend anders bestimmt als die Qualität jedes anderen Dinges. Allgemein versteht man unter der Qualität eines Dinges seine Tauglichkeit, seine Fähigkeit, effektiv verwendet zu werden. Diese Qualitätskriterien gelten aber nur für die profanen Dinge. Die Qualität eines Kunstwerks wird dagegen – so wie früher die aristokratische Würde – allein von seiner Herkunft abgeleitet, wobei der Begriff „Herkunft“ allerdings seine Bedeutung mit der Zeit mehrmals geändert hat. Dementsprechend hat sich auch die Art, wie die Qualität eines Kunstwerks bestimmt wird, mit der Zeit geändert. Die Feststellung einer hohen, exklusiven Qualität hat längere Zeit bedeutet, daß das Kunstwerk aus besonders wertvollen Materialien gemacht wurde, wie Gold, Silber oder Marmor, und daß die Bearbeitung dieser Materialien besonders präzise, fein und bewundernswert war.

In der Moderne hat sich aber allmählich eine andere Bestimmung der Herkunft durchgesetzt. Das Kunstwerk mußte jetzt einen genialen Künstler als Vater haben, um von hoher Qualität zu sein. Die Wertschätzung eines individuellen Kunstwerks im modernen Kunstsystem basiert im wesentlichen auf seinen Herkunftsurkunden, auf dem Nachweis, daß es dem Genie eines bedeutenden Künstlers entstammt. Man könnte sich sicherlich fragen: Wie wird man ursprünglich zu einem Genie? Aber die gleiche Frage könnte man auch den aristokratischen Familien stellen: Wie wird man ursprünglich zu einem Aristokraten? Wir wissen, daß es keine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt. Man kann sagen: Durch glorreiche Siege, staatliche Verdienste, richtige Verbindungen, geschickte Verbrechen – auf jeden Fall irgendwie historisch, verborgen in der Dunkelheit der vergangenen Zeiten.

Das eigentliche Problem des heutigen Kunstsystems besteht allerdings nicht darin, daß einzelne Künstler-Reputationen in Frage gestellt werden. Der grundlegende Mythos vom Künstler als Schöpfer, als Kreator, als Vater seiner Werke ist inzwischen verblaßt und unglaubwürdig geworden. Wir wissen nämlich, daß heute in allen Bereichen des Lebens, inklusive der Kunst, die Re-produktion über die Produktion triumphiert. Keiner ist imstande zu behaupten, daß er am Ursprung seines Werks steht, daß er Bedeutungen, Intentionen und Formen originär produziert und in die Welt setzt. Die Gegenwartskunst hat ebenfalls schon längst aufgegeben, einen solchen Anspruch auf die Originarität aufzustellen. Der heutige Künstler zitiert, re-produziert und verwendet immer schon existierende Dinge – und er tut es explizit. So stellt sich die Frage: Warum und inwieweit sollen Kunstwerke als besondere, exklusive, aristokratische Dinge behandelt werden, wenn ihre Herkunft genauso anonym, profan und dunkel ist als diejenige aller anderen Dinge. Diese Frage bringt das gegenwärtige Kunstsystem insgesamt in Mißkredit und läßt die Gegenwartskunst für viele als eine Art Schwindel erscheinen. Der entsprechende Verdacht wurde schon von vielen namhaften Autoren, wie etwa Jean Baudrillard, geäußert und durch die Feuilletons der großen Zeitungen weit verbreitet. Und in der Tat: Wenn der Verdacht stimmt und es keine aristokratischen Dinge mehr gibt, weil alle Dinge den gleichen, anonymen Ursprung haben – dann sollte man die Institution Kunst zunächst entlarven und danach abschaffen, wie man seinerzeit die Institution Aristokratie abgeschafft hat.

Nun bringt uns dieser Verdacht aber auf die anfängliche Frage zurück: Wie und nach welchen Kriterien man die Herkunft eines Kunstwerks bestimmten soll? Beim genauen Betrachten fällt nämlich auf, daß die übliche Gleichsetzung zwischen Herkunft und Produktion mehr als naiv ist. Die Frage danach, welche Herkunft ein Ding hat, und die Frage danach, wer dieses Ding produziert hat, sind keineswegs zwei identische Fragen. Die Kunstwerke aus den alten, vormodernen Zeiten, die wir in unseren Museen gesammelt und ausgestellt sehen, sind dort nicht, weil sie den berühmten Produzenten entstammten – denn die Künstler galten in diesen alten Zeiten nur als Handwerker, als Diener und blieben meistens unbekannt – sondern weil diese Kunstwerke früher von der Aristokratie in ihren Palästen, oder bei den sakralen Zeremonien gebraucht worden waren. Es war also nicht die Abstammung im Sinne einer Vaterschaft durch den Produzenten, sondern ein bestimmter – aristokratischer oder sakraler – Gebrauch, der diese Dinge ursprünglich geadelt und zu den Kunstwerken gemacht hat.

Historisch ist ein solcher aristokratischer Gebrauch der Dinge für die ganze Kultur – und für die ganze Ökonomie – immer von zentraler Bedeutung gewesen, denn jede Ökonomie kommt letztendlich in eine Sackgasse, wenn sie sich ausschließlich an die profanen Bedürfnisse der Menschen orientiert. Die sogenannten „natürlichen“ menschlichen Bedürfnisse sind nämlich äußerst begrenzt – und sehr leicht zu befriedigen. Eine entwickelte Ökonomie kann sich nur dann weiter steigern, wenn sie die natürlichen Bedürfnisse des Menschen übersteigt, wenn der Konsument seine natürlichen Bedürfnisse konsequent durch künstliche, frei erfundene Wünsche ersetzt – wenn er beginnt, nach dem Unnötigen, Überflüßigen, Luxuriösen zu streben.

Früher war es die gesellschaftliche Funktion der Aristokratie, einen innovativen und zugleich vorbildlichen Konsum zu betreiben und ständig neue, künstliche, exquisite Bedürfnisse zu erfinden, an denen sich die Produktion orientieren könnte. Der traditionelle Künstler-Handwerker hat diese aristokratischen, künstlichen Wünsche durch seine Produktion lediglich befriedigt. Und in diesem Sinne war seine Leistung sekundär, obwohl er dabei als Produzent seiner Werke fungierte. Wir alle wissen: Die Nachfrage schafft das Angebot. Das bedeutet aber zugleich: Der Gebrauch bestimmt die Produktion. Der Konsum ist primär, und die Produktion ist sekundär. In diesem Sinne hat ein Ding erst dann Qualität eines Kunstwerks, d.h. eine richtige Herkunft, wenn dieses Ding einem aristokratischen, innovativen, exklusiven Gebrauch entstammt. Der Akt der Produktion ist dabei viel weniger relevant. Und ich möchte jetzt behaupten, daß das heutige Kunstsystem nichts anderes ist als eine Ersatz-Aristokratie, d.h. ein Ort, an dem Dinge weniger produziert als auf eine für die Gesellschaft vorbildliche Weise gebraucht, konsumiert werden.

Das Bürgertum hat fast gleich nach der Abschaffung der traditionellen gesellschaftlichen Stellung der Aristokratie durch die Französische Revolution begriffen, daß die Erweiterung der Ökonomie auf die Massen und auf ihre natürlichen Bedürfnisse, die Jean-Jacques Rousseau seinerzeit gepredigt hat, für die Entwicklung der modernen Ökonomie nicht ausreicht. Die Nachahmung der Lebensweise der untergegangenen Aristokratie begann unmittelbar nach der Französischen Revolution, wobei die Künstler hier von Anfang an eindeutig eine Vorreiterrolle spielten. Schon Dichter und Künstler der Romantik entwickelten den Kult der Verschwendung, des Luxus, des feinen, exklusiven Lebens, des ungewöhnlichen Geschmacks. Darauf folgten unterschiedliche Varianten des Dandysmus und der Decadance, die alle das Ziel verfolgt haben, immer neue Formen des unnatürlichen, „kranken“, frei erfundenen Begehrens zu entwickeln. Der Künstler wurde zum Sonderbeauftragten der modernen Ökonomie für Erfindung und Entwicklung der neuen Konsumwünsche, zu denen übrigens auch der Wunsch nach Einfachheit, Schlichtheit, Askese gehört.

Lange Zeit blieb die gesellschaftliche Stellung des modernen Künstlers allerdings höchst ambivalent. Zwar ist er zu einem Ersatzaristokraten, zu einem exklusiven, vorbildlichen Konsumenten geworden. Aber er hat dabei nicht aufgehört, ein Produzent, ein Arbeiter, ein Handwerker zu sein. Diese Ambivalenz hat den modernen Künstler ständig irritiert und innerlich gespalten, da er Produkte seiner Arbeit anbieten und verkaufen – und zugleich den gesellschaftlichen Gebrauch dieser Produkte diktieren mußte. Der moderne Künstler empfand sich gleichzeitig als Herr und als Knecht der bürgerlichen Gesellschaft. Daraus entstanden viele (innere und äußere) Spannungen, Risse und Konflikte, die bekanntlich die inzwischen geschichtlich gewordene Figur des modernen Künstlers geprägt haben.

Der paradigmatische Künstler von heute ist dagegen weniger ein Produzent, als vielmehr ein exklusiver, vorbildlicher Konsument der anonym produzierten und in unserer Kultur immer schon zirkulierenden Dinge. Man kann behaupten, daß im heutigen Kunstsystem nicht mehr neue Produkte, sondern allein neue Haltungen, Konsummuster und Wünsche entstehen. In der heutigen Kunst wird der Konsum erfunden, der durch die Gesellschaft noch einmal konsumiert wird. Die Kunst steht heute nicht mehr am Ursprung des Kunstwerks, sondern an seinem Ende. Sie ist nicht mehr die Schaffung der Dinge, sondern ihre exklusive Verwendung – wobei eine solche Verwendung eventuelle künstlerische Bearbeitung und Umgestaltung der Dinge sicherlich miteinschließt. Gerade die erfolgreichsten Künstler unsere Zeit verwenden das allgemein zugängliche, mediale Bildergut, das vor allen Augen anonym entsteht. Der Künstler demonstriert damit, wenn er erfolgreich ist, die Möglichkeit, den Verlust der Autorenschaft zu verkraften, indem er die serielle, anonyme, unpersönliche Bild- und Dingproduktion so gebraucht, daß dieser Gebrauch von der Gesellschaft als individuell, persönlich, originell anerkannt wird. Die Signatur eines Künstlers bedeutet nicht mehr, daß der Künstler einen bestimmten Gegenstand produziert hat, sondern daß er diesen Gegenstand verwendet hat – und zwar auf besonders interessante Art und Weise.

Als theoretische Voraussetzung für diese Umwandlung des Künstlers aus einem genialen Produzenten in einen vorbildlichen, aristokratischen Konsumenten diente bekanntlich die postmoderne Kritik am Begriff der Kreativität. Dabei ist es besonders interessant und für die ideologischen Mechanismen der modernen Gesellschaft sehr charakteristisch, daß diese Kritik zunächst einem völlig anderen politischen Entwurf folgte, als dem, aus dem Künstler einen Ersatz-Aristokraten zu machen. Die Kritik an der Auratisierung der Kunstproduktion hatte nämlich zunächst einmal das Ziel, den Künstler zu entthronen und ihn den anderen modernen Produzenten gleich zu stellen. Die berühmte Forderung der historischen Avantgarde an die Kunst, ihre technischen Verfahren offenzulegen und den Geniebegriff aufzugeben, strebte zunächst an, die Gleichstellung zwischen dem Künstler und dem industriellen Arbeiter zu erreichen. Im 20. Jahrhundert wurde die Kunstproduktion durch die Avantgarde (von Malewitsch und Mondrian über Albers und Sol LeWitt bis Buren, um nur die Maler zu erwähnen) dermaßen formalisiert, technisiert, und entpersönlicht, daß alle Spuren der körperlichen Präsenz des Künstlers im Kunstwerk tendenziell getilgt wurden, so daß dieses Wek began, sich dem industriell angefertigten Produkt mehr und mehr zu ähneln. Parallel haben sich Ready-made-Technique und unterschiedliche Varianten der Medienkunst entwickelt, welche die Spuren der körperlichen Präsenz des Künstlers in seinem Werk fast vollständig ausradiert haben.

Nun hat aber die Reinigung der Kunst von jedem Verweis auf eine bei seiner Herstellung physisch geleistete Arbeit den Künstler im Endeffekt keineswegs dem industriellen Arbeiter gleichgestellt. Ganz im Gegenteil wurde der Künstler dadurch von jeder Art der Produktion radikal entfernt und in der Nähe der Verwaltung, Planung, Führung – und schließlich in der Nähe des Konsums gebracht. Indem der Künstler der Avantgarde die technischen Verfahren der Kunst offenlegt, formalisiert und strategisch einsetzt, macht er eine Wiederholung dieser Verfahren seitens des potentiellen Betrachters von Anfang an möglich. Der Körper des Künstlers steht der Wiederholung seines Umgangs mit den Dingen nicht mehr in Wege. Der Blick des Künstlers wird „entkörpert“ – er wird zum reinen, aristokratischen Blick, der nicht mehr „arbeitet“, sondern nur entscheidet, auswählt und kombiniert. Und deswegen kann dieser Blick auch wieder „verkörpert“ werden, wenn jemand dazu Lust hat, die Verfahren, die der Künstler offengelegt hat, d.h. die Entscheidungen, die er durch seinen Blick getroffen hat, nachzuvollziehen. Auf dieser Weise wird der Gebrauch wieder gebraucht – wird der Konsum wieder konsumiert.

Diese Wiederholung hat nichts mehr mit der repetitiven, industriellen Arbeit zu tun. Es handelt sich um den herrschaftlichen Blick von der Chefetage, um den verwaltenden und strategischen Blick, der wiederum nur strategisch wiederholt werden kann. Die Tätigkeit des heutigen, post-avantgardistischen Künstlers zeigt sich nämlich als Serie expliziter, strategischer und nachvollziehbarer Entscheidungen hinsichtlich dessen, was ausgewählt und was weggelassen werden soll. Dementsprechend funktionieren auch die Museen und sonstige Kunstsammlungen heute nicht als Orte, an denen die Unwiederholbarkeit des Geschichtlichen – die Arbeitsleistung der Vergangenheit – repräsentiert wird, sondern als Archive, in denen unterschiedliche Strategien des Blicks archiviert werden, die jederzeit aus diesen Archiven herausgeholt und neu eingesetzt werden können.

Der Künstler, der die Welt beobachtet und begutachtet, um seine persönliche Wahl unter den Dingen dieser Welt zu treffen, agiert für die Gesellschaft als vorbildlicher Konsument. Seine Bilder sind in erster Linie Konsumvorbilder. Er unterwirft sich nicht unserem Geschmack, sondern er gestaltet diesen Geschmack. Seine eigentliche Aufgabe ist das Geschmackdesign, das Blickdesign. Sicherlich war die Aufgabe der traditionellen Kunst ebenfalls die bildlichen Darstellungen dieser Welt zu sammeln, das Interessante, Bedeutende, Attraktive und Ungewohnte künstlerisch festzuhalten und der Kontemplation darzubieten, um damit den Blick des Betrachters zu erziehen.

Indes war das sammelnde Interesse an den Darstellungen der Welt früher innerlich gespalten, denn man konnte nie eindeutig sagen, woher das Interessante und Außergewöhnliche in den entsprechenden Bildern stammt: ob sie interessant sind, weil die Gegenstände und Ereignisse, die auf ihnen abgebildet sind, außergewöhnlich sind, oder ob die physische Präsenz des Künstlers so außergewöhnlich ist, daß sie allein den Bildern ihre besondere Attraktivität verleiht. Damit wurde die geniale künstlerische Individualität selbst zu einer Rarität, zu einem Sammelstück, so daß man keine scharfe Trennung vornehmen konnte zwischen dem Interesse am Gegenstand und dem Interesse an der Art seiner Darstellung: Beide galten sie als Produkte der Natur – der äußeren Natur oder der inneren Natur des Künstlers.

Der konsequente Verzicht auf den Geniebegriff verwandelt dagegen den Künstler endgültig aus dem Sammelstück zum Sammler. Jetzt ist der Künstler nicht mehr der Arbeiter – wenn auch ein privilegierter Arbeiter -, sondern er beginnt, die Welt mit dem sammelnden Blick des Herrn zu betrachten. Diese Verwandlung zeigt sich besonders deutlich durch die veränderte Stellung des Künstlers in der Zeitökonomie des Blicks. Die überragende Arbeits-, Zeit- und Kraftinvestition, die für die Schaffung eines traditionellen Kunstwerks benötigt wurde, stand nämlich in einem äußerst irritierenden Mißverhältnis zu den Bedingungen des Kunstkonsums, denn nachdem der Künstler lange Zeit an seinem Werk hart arbeiten mußte, durfte der Betrachter dieses Werk mühelos und mit einem Blick konsumieren. Daher die Überlegenheit des Konsumenten, des Betrachters, des Sammlers über den Künstler-Maler als Zulieferer der Bilder, die in mühsamer, physischer Arbeit hergestellt worden sind. Als Photograph, als Medienkünstler oder als Ready-mades-Sammler stellt sich der heutige Künstler allerdings auf die gleiche Ebene des Zeit- und Kraftaufwand mit dem Kunstsammler. Dadurch wird der Bildproduzent dem Bildkonsumenten in der heutigen Zeitökonomie des Blicks gleichgestellt.

Indem der Künstler auf dieser Weise die Position des reinen Betrachters, des vorbildlichen Konsumenten einnimmt, kompensiert er das tiefste Trauma der Moderne, nämlich den Verlust der Aristokratie. Man besucht heute eine große Ausstellung oder eine Installation, wie man früher einen aristokratischen Palast besucht hat. Der Besucher wird zur Kunst vorgelassen – aber er ist nicht ihr eigentlicher Konsument. Vielmehr nimmt er sich eine bestimmte Art von Konsum, die der Künstler in seiner Ausstellung demonstriert, zum Vorbild, wie man früher die aristokratische Lebensweise zum Vorbild genommen hat. Der heutige Kunstkonsument konsumiert nicht mehr die Arbeit des Künstlers. Vielmehr steckt er seine eigene Arbeit dahinein, wie ein Künstler zu konsumieren.

Wenn die Haltung des heutigen Künstlers aristokratisch ist, sind seine Verfahren, unserer Zeit entsprechend, aber vielmehr bürokratisch oder, genauer gesagt, verwaltungstechnisch. Der Künstler wählt aus, nimmt auf, modifiziert, redigiert, verschiebt, kombiniert, reproduziert, ordnet, plaziert in der Reihe, stellt aus oder legt beiseite. Er manipuliert die Bilder, wie die großen, modernen Verwaltungen alle möglichen Daten manipulieren. Und er tut es mit dem gleichen Ziel: Damit der potentielle Kunde einen Blick, eine Perspektive gewinnen könnte, die ihm eine interessante, neue, anregende Ansicht der Welt erlauben würden. Der Unterschied liegt allein darin, daß ein Verwaltungsangestellter seine Vorgaben von außen bekommt, wobei der Künstler diese Vorgaben souverän sich selbst diktiert. So kann man vielleicht sagen, daß der heutige Künstler im gleichen Verhältnis zum heutigen Verwaltungsangestellten und seiner Tätigkeit der Datenbearbeitung steht, wie früher der traditionelle Künstler zum Fabrikarbeiter und seiner manuellen Arbeit. So wie der Maler von damals die Möglichkeit demonstrierte, die Spuren der individuellen, physischen, körperlichen Arbeit im Werk festzuhalten, so läßt der heutige Künstler in der Monotonie der Datenbearbeitung den souveränen Blick aufscheinen. Der Künstler hat also in unserer Zeit endgültig die Seiten gewechselt. Er will nicht länger Handwerker oder Arbeiter sein, der die Dinge produziert, die sich dem Blick der anderen bieten. Statt dessen ist er zum vorbildlichen Betrachter, Konsumenten, Verbraucher geworden, der die Dinge betrachtet, begutachtet und „aufnimmt“, die von anderen produziert werden.

Als Flaneur mit dem souveränen Blick, ist der Künstler von heute jener unendliche Konsument, dessen innovatives, „unnatürliches“, rein künstliches Konsumverhalten das Telos jeder gut funktionierenden Wirtschaft darstellt. Die Kunst von heute funktioniert bekanntlich entsprechend dem Prinzip: „anything goes“. Das bedeutet: Alles ist ästhetisch konsumierbar, alles kann man gut, toll, interessant finden, alles kann als Kunstwerk interpretiert, alles kann zu einem Gegenstand des Begehrens und des Genusses werden. Damit wird die moderne technisch-ästhetische Ökonomie total und unendlich. Die Kunst wird zum offenen Horizont, zur letzten Frontier, zur Avantgarde der modernen Wirtschaft. Die heutige Kunst zeigt, daß man alles zum Objekt des Begehrens machen kann, wenn der Künstler das Begehren neu definiert und ihm eine neue Richtung gibt. Schon Carl Schmitt hat in seiner Schrift „Der Begriff des Politischen“ (1932) in bezug auf die Frühromantik bemerkt: „Der Weg vom Metaphysischen und Moralischen zum Ökonomischen geht über das Ästhetische, und der Weg über den noch so sublimen ästhetischen Konsum und Genuß ist der sicherste und bequemste Weg zur Ökonomisierung des geistigen Lebens“. In der Moderne funktioniert die künstlerische Avantgarde als ökonomische Avantgarde, oder, wenn man will, als Ersatz-Aristokratie einer auf der Grundlage der Ökonomie organisierten Gesellschaft – als eine „künstliche“ Aristokratie, deren gesellschaftliche Funktion darin besteht, die Grenzen des Begehrenswerten immer weiter zu verschieben.

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