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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Art Cologne 1998: Kämpft um Qualität

Dokumentiert von Hilde Malcomess

Dokumentation der Diskussion zur „Kunst als Avantgarde der Ökonomie“

Unter der Moderation von Andreas Grosz diskutieren

Prof. Dr. Jean-Christophe Ammann, Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt/Main

Prof. Dr. Boris Groys, Professor für Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe

Alexander Pereira, Indentant des Opernhauses Zürich

Prof. Dr. Birger P. Priddat, Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Privatuniversität Witten-Herdecke

Michael Roßnagl, Leiter Siemens Kulturprogramm

Andreas Grosz: Wie stehen Sie zu der These von Boris Groys, der den heutigen Künstler als vorbildlichen Konsumenten und damit als Avantgarde der Ökonomie beschreibt?

Jean-Christophe Ammann: Ich glaube, Boris Groys hat möglicherweise recht, aber seine Betrachtungsweise ist eine kulturkritische und hat mit Kunst wenig zu tun. Vielleicht verwechselt er sogar Kreativität und Kunst. Die Kunst ist und bleibt eine anthropologische Konstante. Kreativität ist etwas, was uns allen eigen ist. Kunst ist ein Lebensentwurf. Ich glaube nicht, daß sich daran etwas ändern wird – ob nun heute mit Medien oder welchen Techniken auch immer gearbeitet wird. Der Künstler ist als Wesen nicht abgekapselt. Er lebt in der Gegenwart, er hat sogar den Auftrag, gewissermaßen Gegenwart beispielhaft zu denken. Wenn Boris Groys sagt, der Künstler sei eigentlich der erste Konsument, dann war er das immer. Natürlich hat er die Bilder geschaffen, die wir als Nichtkünstler zu jeder Zeit nicht schaffen konnten. Aber letzten Endes ist ein braver Mann, der auf einem harten Holz eine Madonna malt, eben nicht Dirk Bouts und er ist auch kein Pieter Brueghel -von dem es eben nur Pieter Brueghel den Älteren gibt, denn die beiden Söhne waren lediglich gute Handwerker.

An solchen Tatsachen kommt man nicht vorbei, und deshalb ist Groys‘ Vorgehen ein kulturkritisches und eben nicht auf die kÜnstlerische Praxis bezogenes Denken. Das Kunstwerk nämlich ist zu jeder Zeit immer ein anschaulicher Denkgegenstand, und da wird sich in Zukunft nichts ändern.

Birger P.Priddat: Groys‘ These, Kunst komme nicht mehr als Arbeit des Künstlers vor, sondern stelle den Rezipienten, den Kunden der Kunst, in eine eigene Arbeit hinein, ist das Kernthema der Kundenorientierung bei Unternehmen. Die Wirtschaft entdeckt momentan, daß sie nicht nur Dinge hinstellen muß, die dann gekauft werden, sondern daß sie mit den Leuten in einer Weise kommunizieren muß, um herauszufinden, was die Kunden wünschen. Der nächste Schritt ist die Zusammenarbeit von Unternehmen und Kunden am Produkt. Das findet schon statt, wenn Sie ihre Scheckkarte in den Bankautomaten stecken. Sie werden nicht mehr von der Bank bedient, sondern arbeiten selber für die Bank – umsonst.

Jetzt gehe ich noch einen Schritt weiter, weil wir ja Über Kunst als Avantgarde der Ökonomie reden: Wir haben das Unternehmen als Kulturagent. Das Unternehmen beginnt die Gesellschaft in Gestalt von Kunden und Mitarbeitern und damit sich selbst in ein neues Verhältnis zu stellen. Und was ist das anderes als eine künstlerische Aktion?

Michael Roßnagl: Leider bleibt Boris Groys‘ Kulturbegriff bei der Kunst als Ware stecken. Der Inhalt wird bei ihm Überhaupt nicht diskutiert -doch genau das ist es, was die Wirtschaft interessiert: Was steckt hinter dem Werk? Wie kommt der Künstler zu dieser Arbeit, warum zeigt er uns diese ganz subjektive Haltung? Das Dahinterschauen ist das Interessante, nicht die Ware an sich.

Gemeinhin wird eine strikte Trennung zwischen Kultur und Wirtschaft propagiert, ja die Forderung erhoben, sich nicht inhaltlich einzumischen. Das tun wir aber. Wir mischen uns nicht in die Inhalte der Künstler, aber wir kooperieren mit Institutionen, wir diskutieren Begrifflichkeiten, wir kommen zu gemeinsamen Lösungen. Und ich glaube, das ist das Thema der Zukunft: Die Bereiche sind nicht mehr isoliert – hier die Ökonomie, dort die Kunst. Es geht um eine neue Art von gemeinschaftlichem Kulturverständnis.

Alexander Pereira: Es gibt in der Bibel das berühmte Gleichnis von den Talenten. Statt Talent möchte ich einmal von Künstlertum sprechen. Wenn wir nach der Verbindung zwischen Kunst und Ökonomie suchen, so ist es wahrscheinlich dieses gemeinsame Künstlertum, das jeder einzelne in die Verarbeitung eines Holzstückes hineinlegt oder in die Leitung einer Bank oder in den abendlichen Auftritt als Don Giovanni.

Und doch gibt es einen Unterschied zwischen der Arbeit eines Bankangestellten und der eines Opernsängers. Künstler sind für die Gesellschaft besonders wichtig, weil in ihren Werken Entwicklungen bis zu hundert Jahre im voraus abzulesen sind. Die Kunst war schon immer gewissermaßen ein Leuchtturm, ein Vorreiter der Gesellschaft. Warum war sie das? Weil der Künstler sich an die Grenzen der eigenen Persönlichkeit begibt. In dieser Grenzsituation nimmt er alle um sich herum in die eigene Intuition mit auf. Und dann erscheint ihm alles wie durch ein Vergrößerungsglas.

Egal an welchem Schreibtisch oder auf welcher Bühne wir uns befinden: Es geht immer um das Erreichen einer höchstmöglichen Qualität. Und natürlich kann jede Firma sich bemühen, das Beste aus ihren Mitarbeitern herauszuholen. Aber das ist nur ein Teil. Menschen werden nicht nur in ihrem eigenen Unternehmen beeinflußt, sondern sie verbringen die Hälfte ihrer Zeit woanders. Dort benötigen sie genauso Anregungen, das Beste aus ihren Talenten zu machen. Dazu brauchen wir die Kunst oder die Musik, die uns Kraft, Wärme, Stärke, Liebe, Zärtlichkeit, Begeisterung, geistige Auseinandersetzung, mit anderen Worten: Lebenskraft gibt, um die Schwierigkeiten, mit denen wir jeden Tag zu kämpfen haben, Überwinden zu können.

Jean-Christophe Ammann: Wo steht der Mensch in Zukunft? Das ist das Entscheidende. Denn der Künstler ist auch ein Mensch. Und auf das Individuum kommt Gewaltiges zu. Und in dem Moment sind nicht die Trends das Entscheidende. Man muß auch antizyklisch denken können. Trends sind ja heute so, daß sie mehr ausschließen denn einschließen, weil sie marktorientiert und trendorientiert eine Wirklichkeitsdarstellung vermitteln wollen. Ich interessiere mich für Dinge, die vielleicht jetzt gar nicht im Trend liegen, und frage: Was ist denn das, der Mensch in Zukunft? Der Mensch in Zukunft ist der Mensch, der Überhaupt nicht mehr 400 Kanäle im Fernsehen anschauen will, sondern nur drei.

Künstler, die Information verarbeiten, haben Pech gehabt. Kunst und Information haben nichts miteinander zu tun. Kunst und Gegenwart haben miteinander zu tun. Das Schwierigste Überhaupt ist, Gegenwart zu denken.

 

Andreas Grosz: Herr Groys, Sie geraten so ein bißchen in die Situation des postmodernen Philosophen, der die Kunst dem Konsum preisgibt, mit Künstlern als Seismograph für den hippesten Konsumrausch oder als Trendsetter.

Boris Groys: Ich möchte den Standpunkt finden, von dem aus ich fasziniert sein könnte. Und das ist nicht der Standpunkt des Handwerks. Also frage ich mich, was bei dem einzelnen Individuum besser ist, und das könnte dann auch die Kunst unserer Zeit sein. Und ich wÜrde sagen, das Bessere könnte die Konsumebene sein. Weil wir nach wie vor imstande sind, interessant zu konsumieren. Es ist, wie Marx es geschrieben hat: Die Produktion ist vergesellschaftlicht, aber der Konsum bleibt mehr oder weniger individuell; und auf dieser individuellen Ebene, die wir kontrollieren können, wo wir wirklich etwas tun können, was unsere Individualität zum Ausdruck bringt, da versuche ich das zufinden, was unsere Zeit charakterisiert. Und das finde ich in der Kunst. Das heißt, für die Künstler ist es mehr oder weniger egal heutzutage, ob sie ihre Objekte selbst produziert haben in handwerklicher Arbeit, ob sie diese zitiert haben, oder ob sie fertige Objekte benutzt haben. Allein der Umgang mit den Dingen bildet den Schwerpunkt des Interesses.

Das ist der Konsum im wahrsten Sinne des Wortes. Die Benutzung der Dinge ist interessant, nicht die Dinge selbst und wie sie produziert werden.

 

Birger P. Priddat: Herr Ammann spricht von Expertenkultur. Was Herr Groys sagt, ist nichts anderes, als daß wir heute expandieren können. Wir haben eine enorme Elastizität dessen, was wir Kunst nennen, in den Bereich des Mediokren hinein. Wenn ich genauer hingucke, was die Kunst als Avantgarde für die Wirtschaft oder die Menge der Unternehmen bedeutet, dann stelle ich fest: Diese Fragen sind in der Theorie der Ökonomie noch gar nicht reflektiert. Das bedeutet doch nur, daß der Übliche Weg von Sponsorship -Unternehmen kaufen und fördern Kunst -nichts mit Kunst als Avantgarde der Ökonomie zu tun hat. Wo also begegnet uns eine solche Vorreiterrolle der Kunst tatsächlich?

Diese Vorhut findet im Bereich der Werbung statt, dort wo sie als Videoclip oder als intelligente Story auftritt. Das sind die modernen Formen von Kunst. Wechseln Sie mal die Perspektive. Da wird in einer teilweise technisch brillanten Weise unter Nutzung aller abendländischen Ressourcen Musik, Ton, Bild, Farbe, Gedanke den Leuten etwas präsentiert, was für die meisten Kinder kulturelle Ausbildung ist. Und das muß man ernst nehmen.

Ich denke, daß die Ökonomie eine gewisse Verantwortung hat, wenn sie die Werbung einsetzt. Sie soll sie nicht begrenzen, aber wissen, was sie tut. Und sozusagen dieses Ding kultivieren und pflegen und erweitern. Das ist für mich die erste Produktion von Kunst in Unternehmen. Oder gekaufte Produktion von Unternehmen.

 

Jean-Christophe Ammann: Das ist ja in Ordnung. Diese Ausdehnung, die Sie angesprochen haben, die erlebe ich genauso spannend. Gerade in der Modefotografie passiert Senationelles. Wenn die Klamotten hinter den Frauen herrennen, weil der Frauentypus die entscheidende Message ist -das finde ich großartig. Wo ich natürlich interveniere, ist bei der Behauptung, die Person, die Werbung mache, mache Kunst. Der Künstler ist noch mal was ganz anderes. Wir reden, angestachelt durch Boris Groys, zu stark von der Rezeption. Ich glaube, als jemand, der von der Kunst kommt, muß man auch mal von der Position des Künstlers ausgehen und sagen: Der geht einen anderen Weg.

 

Birger P. Priddat: Sie reden Über Kunst, und das ist auch völlig richtig, und Sie sagen auch kluge Sachen dazu. Nur, wenn die Ökonomie kommt, dann haben Sie als Künstler erst mal nicht viel zu melden, außer die Vorstände sind selber gebildete Leute und kaufen Ihre Bilder. Wo tritt denn eigentlich wirklich die Avantgardefunktion der Ökonomie auf? Das kann doch nur da sein, wo die Ökonomie in Massen Geld investiert. Ich will herausfinden, wo der Ort ist, an dem die Ökonomie, das heißt die Unternehmen, die Manager, alle, die entscheiden, selber Kunst brauchen für ihre Arbeit oder selbst in irgendeiner Weise Künstler werden. Das wäre für mich die Diskussion. Dazu wurde bisher zu wenig gesagt.

 

Boris Groys: Die Künstler der klassische Avantgarde, der historischen Avantgarde, sind für uns ökonomische Märtyrer. Das waren gute Künstler, die ihre Werke nicht verkaufen konnten. Und plötzlich kosten diese Werke, also irgendwelche Quadrate, Dreiecke, Millionen von Dollars. Ist das nicht die Avantgarde der Ökonomie?

Firmen haben Schwierigkeiten, ihre Produkte, etwa Toiletten, zu verkaufen. Und jetzt verkauft man für Millionen Dollars Drei- oder Vierecke. Das ist eine unglaubliche ökonomische Leistung. Ich würde sagen, wer Überhaupt in diesem Jahrhundert wirklich eine ökonomische Leistung vollbracht hat, das waren die Künstler der klassischen Avantgarde.

Wenn wir den Begriff Kunst jetzt weiter fassen, dann müssen wir uns fragen: Was ist in diesem Sinne die Avantgarde der Ökonomie generell?, und ich würde sagen, die Avantgarde der Ökonomie ist dort, wo neue Ideen, neue Produkte, neue Formen angeboten werden, von denen man noch nicht weiß, daß sie nötig sind. Von denen man auch nicht weiß, wie sie verwendet werden können, wie es einmal beim Computer war oder beim Internet.

 

Alexander Pereira: Ich möchte der These kräftig widersprechen, daß der Künstler als Großverdiener eine Errungenschaft dieses Jahrhunderts sei. Das ist ein absoluter Quatsch. Wagner hat ein Vermögen für seine Aufträge bekommen. Beträge, die Sie sich heute Überhaupt nicht vorstellen können. Das gleiche gilt für Verdi. Es hat immer Künstler gegeben, denen man nachgelaufen ist und denen man das Geld nachgeworfen hat. Und das ist heute genauso.

Tausend Menschen müssen heute Gesang studieren, damit einer engagiert

wird. Stellen Sie sich vor, das wäre bei den Rechtsanwälten und Ärzten genau- so. Das Künstlersein ist heute genauso risikoreich wie damals. Selbstverständlich gibt es immer ein paar Leute, die dabei viel Geld verdienen. Es kommt doch auf das Verhältnis an zwischen denen, die sich um Erfolg bemühen, und denen, die tatsächlich reüssieren.

 

Andreas Grosz: Beschäftigen sich eigentlich Ökonomen systematisch mit Fragen dieser Grenzüberschreitung zwischen Kultur und Wirtschaft?

Birger P. Priddat: Das sind natürlich Randthemen, die erst dann eine allgemeinere Bedeutung bekommen, wenn die Konstitution und Wirkungsweise von Märkten verschiedener Kulturen ansteht, wenn man es also mit unterschiedlichen Auffassungen von Verträgen und Management zu tun hat. Hier beginnt eine Öffnung der Ökonomie, die nicht nur mit Mengen oder Preisen kalkuliert, sondern ihre Kulturbedingtheiten in Augenschein nimmt.

Und ein Weiteres: Wenn ein Markenname eine symbolische Aufladung bekommt, so wie Camel das Symbol für freie Männer in Wüstenlandschaften oder was immer ist, dann nutzt die Ökonomie plötzlich Ressourcen eines kulturellen oder künstlerischen Kontextes. Natürlich erst mal, um Geld zu machen. Aber darin spiegelt sich etwas, was Über das Geldmachen hinausgeht.

Michael Roßnagl: Ein Produkt hat meist seine Wirkung in einem bestimmten Kulturkreis. Und es ist äußerst komplex, dies darzustellen. Ein Unternehmen hat es ja nun geschafft, weltweit braune Brause zu verkaufen. Das ist herausragend, wie diese Firma es erreicht hat, sozusagen eine kulturelle Identität weltweit herzustellen. Die haben sich sehr genau angesehen, wie dies zu bewältigen ist. Sie haben hineingesehen in eine Avantgarde. Das ist meiner Ansicht nach bestens gelungen. Ob das andere so wollen oder ob das notwendig ist, möchte ich bezweifeln.

 

Alexander Pereira: Wenn wir uns die Frage stellen, warum die Kunst ein Vorreiter der Gesellschaft ist, so zeigt sich, daß der Staat sich Über Jahrzehnte, insbesondere in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, Über das Sozialwesen, den Sport, die Künste profiliert hat. Dabei hat er ziemlich radikal Privatleute, Liebhaber und die Wirtschaft ausgeschlossen.

Jetzt merkt der Staat, daß ihm das Geld ausgeht, und wünscht sich eine mündige Gesellschaft, welche die Kultur aus ihrer Tasche bezahlt. Doch wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Kulturleistungen in ihrer bestmöglichen Form zu erhalten.

Wir müssen eine neue Solidarität der Gesellschaft kreieren, bei der Wirtschaft, Politik und der einzelne Bürger zusammenwirken. Dann wird ein Stück Gemeinsamkeit trainiert, das auch die Chance birgt, insgesamt eine bessere Gesellschaft zu bekommen. Somit ist also die Finanznot der Kulturinstitutionen – ich bitte, das nicht zynisch aufzufassen – wieder nur die Vorhut einer größeren Krise. Wenn wir das Problem im Bereich der Kunst lösen, werden wir es auch in anderen Bereichen der Gesellschaft lösen können.

 

Jean-Christophe Ammann: Unternehmer, Banker hetzen von einer Umstrukturierung in die andere, und noch nie hat es so viele Unternehmensberater gegeben wie heute. Was machen die denn anderes, als wie Künstler in Modellen und Strategien zu denken? Die müssen genauso schöpferisch, ja innovativ sein. Was Künstler tun, davon können wir nur lernen, wenn wir uns weniger mit den einzelnen Objekten, die wir vielleicht begehren, auseinandersetzen, sondern uns auseinandersetzen mit dem darin offenbarten bildnerischen Denken, mit der Modellhaftigkeit, die ihm zugrunde liegt.

 

Birger P. Priddat: Warum gehen Sie, Herr Ammann, nicht als Berater in die Wirtschaft? Wenn Sie dort mit Ihrem künstlerischen Denken irritieren, dann schaffen Sie der Kunst eine breite Fahrspur. Dann beginnt Kunst in einer Weise in der Gesellschaft nachzuwirken, die ganz anders ist als die Nachwirkungen eines Museums- oder Opernbesuchs.

Wir müssen die Diversität der Kunst respektieren. Aber wir müssen wissen, was sie bringt. Wenn wir durch künstlerische Denkmodelle eine neue Wahrnehmung von uns selbst und der Welt bekommen, wenn Kunst das auf breiter Basis leistet, dann haben Sie einen neuen Markt eröffnet.

 

Alexander Pereira: Aber das alles geht nicht ohne Qualitätsanspruch. Wir können eben nicht alles grundsätzlich und beliebig zur Kunst erklären, nur weil es jetzt gerade wirtschaftlich oder konsumtechnisch oder sonstwie opportun ist. Es gibt, und es wird immer geben, ganz klare Gesetze, die Kunst von Kunsthandwerk unterscheiden.

Wenn ich meinen „Don Giovanni“ so mittelmäßig wie möglich produziere, weil er dann schön billig ist oder gut ankommt, dann gewöhne ich den Menschen ab, in sich selber um Qualität zu kämpfen. Dort ist doch das Problem.

 

Jean-Christophe Ammann: Die schöpferische Eigenkompetenz dessen, was das höchste Kapital der Unternehmen ist, nämlich die qualifizierten Mitarbeiter, ist doch heute ganz anders gefordert – und zwar im besten Sinne. Mitarbeiter sind gefordert, nicht nur die Ideen aus dem eigenen Bereich zu generieren, sondern Ideen von außen hereinzubringen. Konfrontiert man sie mit Kunst, wie Siemens das zum Beispiel tut, dann werden die Leute neugierig, dann nehmen sie die Modelle, Werke, schöpferischen Prozesse auf und bringen sie auch wieder in das Unternehmen zurück, weil es Freude macht.

Oder liege ich damit ganz falsch, Herr Roßnagl? Wie ist denn die Innenwirkung Ihres Kulturprogramms auf das Unternehmen?

 

Michael Roßnagl: Ich glaube, der Vorstand würde mir keine Mark anvertrauen, wenn er nicht glaubte, daß unsere Aktivitäten eine besondere Wirkung nach innen haben. Ein Standbein des Siemens-Kulturprogramms ist die Vermittlungsarbeit. Man kann jedoch nicht nach Gutsherrenart darangehen: Der Direktor entscheidet, was Kunst ist. Man muß diese Fragen wirklich bearbeiten, dann erzeugen sie im Unternehmen vitales Leben. Wir haben einen wunderbaren Austausch.

Die alte Masche – die Firma hat zu zahlen, die Kunst hat das Kritik- und das Moralrecht – ist passé. Ich wünsche mir eine konstruktive Auflösung dieses radikalen Schnitts. Es geht um Qualität, für die jedes Unternehmen bereit ist zu kämpfen.

 

Boris Groys: Ich möchte mit einem allgemeinen Eindruck von unserem Gespräch schließen: Diejenigen, die mehr aus der Perspektive der Kunst denken, sind auch zu mehr Kritik und Skepsis bereit, auch in bezug auf Ästhetische und moralische Werte. Die Kunst versteht sich heute als der Ort, an dem alle Werte in Frage gestellt werden, neu entworfen, hinterfragt und dann wieder gerettet werden. Dieses Bild, daß die Kunst etwas beschließt, es unreflektiert scheinbar eindeutig positioniert, ist nicht richtig. Kunst ist der Ort der maximalen Unsicherheit in unserer Zivilisation und deswegen so faszinierend.

Die Diskussion fand als Abschluß des von Andreas Grosz und seinem Büro für Unternehmenskommunikation und dem „Rheinischen Merkur“ konzipierten Projektes „Kunst als Avantgarde der Ökonomie. Neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Kultur und Wirtschaft“ am 10.11.1998 im Kölner KOMED statt.

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