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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Michael Roßnagel: Die Kunst gebrauchen

Nicht immer nur vor einem reparierten Pissoirbecken (Duchamp-Remake), anhand einer Suppendose (Warhol), einer 20.000 Mark teuren Büchse mit Exkrementen (Manzoni) oder vis-à-vis einer bekleckerten Badewanne (Beuys) ist es heute keine Schande, nicht zu wissen, was Kunst ist. Aber: Wer auch immer behauptet, er habe irgendetwas Derartiges geschaffen, gefunden oder bloß gedacht, genießt erst einmal die Freiheitsgarantie des Grundgesetzes.

Daß hier die Justitia eine kitzlige Achillesferse hat, bestätigt neuerdings der Karlsruher Rechtsanwalt Daniel Beisel in einer spannenden Dissertation (R. v. Decker‘s Verlag, Heidelberg) über die strafrechtlichen Grenzen der Kunst. Denn in den klarsten Urteilen dieser Materialsammlung bleibt ungeknackt der kuriose Kern des Nichtwissens: die Frage, was Kunst ist, „kann nach wie vor von niemandem beantwortet werden“.

Das klingt nun gar nicht mehr nach der dandyhaften Arroganz, mit der einst der prozeßfreudige Maler James A. M. Whistler sich außerstande sah, den Geschworenen Kunst zu erklären. Und erreicht die Wanderanekdote vom überforderten Kritikerpapst nicht den Gipfel aktueller Seriosität: nach längerem Wiegen des Kopfes entringt sich ihm das finale Urteil: „Ja. Es hat was.“ Wehe natürlich, es will heute einer ernsthaft wissen, was – es stürzt eine Bibliothek von hochinteressant verknorpelten Auskünften über ihm zusammen. Schon Hegels Studenten redeten ja von der „partiellen Negation des An- und Umseins der passiven Kausalität des Unendlichen“ und meinten bloß ein Loch im Hemd der Jungfrau Maria.

Als mißverstandener Befreiungsschlag gegen alle Denkvorschriften auch vor moderner Kunst hat sich mittlerweile das „anything goes“ des Wiener Philosophen P. K. Feyerabend eingebürgert – sehr geeignet, ein tolles Aha-Erlebnis aus irgendeinem Naja-Ergebnis herauszuanalysieren. Und umgekehrt.

Noch cooler: die Frage nach dem „Was“ sei schon falsch, hatte der vor kurzem gestorbene amerikanische Philosoph Nelson Goodman erkannt und als entscheidende Verbesserung hinterlassen: „Wann ist Kunst?“ In einem Nachruf erwähnte dann der Münchner Publizist Willy Hochkeppel, er habe dem Philosophen einmal als logische Fortsetzung vorgeschlagen: „Wann ist was Kunst?“ – doch es blieb wohl bei einer anhaltenden Gesprächsbereitschaft.

Aber natürlich trotzdem: welch ein intellektueller Reiz, sinnliches Abenteuer, ja fit-for-future-Gefühl: fördernd und fundierend teilzuhaben am èlan vital dieses undefinierbaren Kunstbegriffs.

Das Team des Siemens Kulturprogramms arbeitet seit 1987 im Sinn des Hauses und entsprechend seiner Dominanz in Technik und Forschung als eine Art „Dritter Sektor“. Wo wir in den einzelnen Kultursparten den konkreten Vorschein einer emanzipatorischen Phantasie entdecken, helfen wir ihr nach vorne – man könnte sagen, in friedlicher Umkehr der französischen Studentenparole von 1968 „La Fantaisie au Pouvoir“, zu der allerdings plakativ eine revolutionäre Faust aus dem Fabrikschlot drohte.

Nach dem Prinzip „Moderne Kunst an die Arbeitsplätze“ sind Siemens-Räume gleichsam aufgeladen mit kulturellen Trends. Der vernetzte Mensch wird so in ein Gespräch gezogen, als sei er da schon ein bißchen der Zeitgenosse von morgen. Auch kommen die Mitarbeiter zu den Tatorten der geförderten Innovationen in Bildender Kunst, Musik, Tanz, Theater, multimedialen Events. So daß sich das konzerneigene Nummer-eins-Bewußtsein der Technologie wie von selbst verbindet mit der Aura von künstlerischer Avantgarde.

 

Und da zischt es gewaltig. Hier Ökonomie, hier Kunst – beide Denkweisen geraten samt ihrem unterschiedlichen Wortschatz hart aneinander. Vor allem, wo es um den gemeinsamen Einsatz geht, kommt sowas wie Freude auf am Formulieren einer „technisch-ästhetischen Ökonomie“. Schon wird untersucht, welcher Seite die „spekulativische Idee“ zuzuschreiben ist. Vielleicht zeigt ja der Künstler dem Unternehmer, wo’s langgeht? Ist nicht erwiesen, daß die berühmte

Rot-Wand des Malers Rupprecht Geiger in der Siemens-Kantine ein elementarer Muntermacher ist, der sich auch auf die Arbeit auswirkt?

Die Spanne zwischen Idee und Erfahrung ist im Siemens Kulturprogramm denkbar gering. Denn hier erarbeitet ein hauseigenes Team von Fachleuten die Projekt-Themen, die dann mit Künstlern und Kultureinrichtungen konzipiert und realisiert werden. Jede Veranstaltung ist ein Experiment, und jeder Versuch einer Positionsbestimmung ist ein Abenteuer mit offenem Ausgang.

Zum Beispiel unterstützten wir mit dem Konzert „The Yellow Shark“ von Frank Zappa und dem Frankfurter Ensemble Modern ein außergewöhnliches Ereignis und die Experimentierfreudigkeit eines beispielhaften E-Musik-Ensembles, das mit diesem Projekt Möglichkeiten des Aufbrechens und Überwindens traditioneller Musizierhaltungen zeigte. – In der Ausstellung „Fotografie nach der Fotografie“ präsentierten 30 Foto- und Medienkünstler die digitalen Manipulationsmöglichkeiten der Fotografie und die neuen Wege einer künstlerischen Bilderfindung. – Das städteübergreifende Projekt „tanzraum 98“ stellte wegweisende Produktionen nationaler und internationaler Tanzcompagnien vor.

Das ist denn doch etwas anderes, als mancher in die Kultur verschlagene Betriebsprüfer mit Unternehmenskultur meint. Sie sei, so heißt es, „ein Geschäft, das auf der Gegenseitigkeit von Leistung (Sponsor) und Gegenleistung (Öffentlichkeitsarbeit durch den Gesponserten) beruht“. Abgesehen davon, daß derjenige sich schwer verrechnet, der die Öffentlichkeitsarbeit als sichere Größe behandelt: sie liegt nämlich ganz im Ermessen der Medien.

Die Ware Kunst als wahre Kunst? Warum den Künstler, der ja zum Staunen der Wirtschaft seinen Kunden die offenbar unmöglichsten Sachen andrehen kann – warum den nicht gleich zum Sonderbeauftragten der modernen Ökonomie ernennen, damit er neue Konsumwünsche erfindet?

Also kurz und kühn: Kunst als Avantgarde der Ökonomie…?

Eine derart rigorose Pathosformel, gewonnen aus der neu gesehenen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Kultur, signalisiert nun aber doch einen überraschenden Ausbruch aus dem Versuch eines gemeinsamen Denkhaushalts. Fast könnte sie aus dem Schwabinger Cafè Größenwahn der Zwanziger Jahre stammen; oder aus einer Chefetage, die sich total der Kunstmagie ergeben hat. Jedenfalls reizt sie zu dem feuilletonistischen Fallrückzieher: Kühe geben zur „Kleinen Nachtmusik“ mehr Milch? Dann ist Mozart ein Avantgardist der Milchwirtschaft!

Auch nach meiner Erfahrung ist der zu jeglicher Groß- und Schandtat erweiterte Begriff von Kunst eine Ursache für das ebenso erweiterte Herumphilosophieren. Oft nur ein heiteres Bedeutungsraten.

Selbst Jean Baudrillard, der Medientheoretiker mit dem Siemens-Preis, macht es sich manchmal auf komplizierte Art leicht: „Wenn ich nicht von Kunst spreche, dann einfach deswegen, weil sie mir nicht spezifisch zu existieren scheint“.

Der Göttinger Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin hat als Münchner Kulturreferent genug von der alltäglichen Auflösung der Kunst in Philosophie à la „documenta X“. Er erinnert an das „Handfeste“, sozusagen an das urban Brauchbare in der Kunst, womit er freilich einer wachsenden Sehnsucht der ganzen Sparte entgegenkommt: irgendwie will sie auch „richtig gebraucht“ werden.

Aber dieser Titel „Avantgarde“, wohl erworben im Erfinden von Gegenwelten, von ästhetischen Sensationen, Hochstimmungsfeldern – er sitzt mit all seinen Risiken einfach nicht korrekt an der Tête eines Weltkonzerns. Man stelle sich vor: Andy Warhol vor Heinrich von Pierer!

Für eine moderne, aber halt in der Praxis eher neoromantische und sehr dem Zufall ausgelieferte Betriebsidee soll hier das Genialische des Künstlers, sein Sinn fürs Unerhörte, seine ganze irrationale Potenz nicht bloß als geistige Klimaanlage, nein, gleich als die leitende Größe in den ökonomischen Prozeß eingebaut werden…? Von einer Chefetage aus ernsthaft gesehen, klingt das mehr nach ultima ratio als nach Avantgarde.

Mit der Gründung eines Aktionskomitees der Künstler zwecks Anerkennung als verantwortliche Betriebsavantgardisten ist auch kaum zu rechnen. Denn nach der verführerischen Analogie, die wahre Führungskraft gleiche eben doch dem Künstler, wurde schon manche fixe Idee an die Wand gefahren. Wenn man immer hört, mit welchem Schwung sich ein ingeniöser Regel-Bruch gegen die Marktlage durchgesetzt hat, dann ist doch dahinter auch einer zu vermuten, der in der Kunst des Managements ganz vorne ist und seinerseits das Gefühl entwickelt, hierin Avantgardist zu sein.

Auf Schritt und Tritt diese populär verschlissenen Wörter! Zum Beispiel „Innovation“, worunter bei der Siemens-Kulturförderung jeder versteht, was gemeint ist, vom neuen Ansatz innerhalb einer Sparte bis zur grundsätzlichen, etwa multimedialen Neuerung. In einem Gespräch mit Jeanne Rubner hat jüngst der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Prof. Wolfgang Frühwald vorgeschlagen, das Modewort zehn Jahre lang nicht mehr zu benutzen, denn es unterscheide, was die Produktion betrifft, nicht zwischen Verbesserung und Revolutionierung.

Bedenklicher wird es aber doch bei dem Modewort „Avantgarde“, wenn bei der Begriffsübernahme aus der Kunst in die Ökonomie jeder Inhalt herausfällt und nur noch die Masche gilt, wie es zum Erfolg kam, egal was. Dann zu sagen: Kunst als Avantgarde der Ökonomie, das geht nur über eine Art wirtschaftliche Umwegrentabilitäts-Lyrik.

Aber kein Avantgarde-Streit! Alle Beteiligten stehen ja auf demselben weiten Feld. Von einer Einmischung noch anderer Fakultäten rate ich ab. Wenn erst die Militärhistoriker sich der Avantgarde annehmen und aktuelle Kulturwerte in dem Satz entdecken „Die Garde stirbt und ergibt sich nicht“ – dann stürzt das ganze künstlerische Analogie-System ab. Denn in der längst aufgeklärten Wirklichkeit von Waterloo 1815 sagte der General Cambronne nur ein einziges, hier völlig unbrauchbares Wort:

„Merde!“

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