Daniel Delhaes: Die Welt in der Welt sichtbar machen
Deutschland am ausgehenden 20. Jahrhundert: 4,5 Millionen registrierte Arbeitslose, eine Staatsquote von über 48 Prozent, kaum mehr zu finanzierende Sozialsysteme, Steuerbelastungen für Mittelständler, die sich nicht selten auf 65 Prozent summieren. Auf der anderen Seite rollt das Ungetüm der Globalisierung heran, bedroht des Errungene, sorgt für Angst und Schrecken und läßt den Ruf nach staatlicher Hilfe lauter werden. Dieses mal hallt der Ruf auch hinaus nach Europa, wo sich ein größerer und weitaus mächtigerer Schutzwall in Form der Europäischen Gemeinschaft gegen die vitale und motivierte Konkurrenz aus Südost-Asien und allmählich auch aus Mittel- und Osteuropa bildet.
Vital und motiviert war Deutschland auch einst, als es antrat, als Wirtschaftswunderland die Welt zu erobern. Das Land durchzog eine Kultur des Aufbruchs. Heute beklagen alle die Kultur der Ideenlosigkeit.
Woraus resultiert diese Lethargie? Ist sie das zwangsläufige Ergebnis eines wohlsituierten Wohlfahrtstaates? Das Land der Dichter und Denker scheint nicht mehr denken zu wollen. Denken bedeutet, an etwas positiv oder negativ Anstoß zu nehmen, es zu hinterfragen, etwas anderes mit dem Wahrgenommenen zu verbinden und in der Kombination des Erfahrenen etwas Neues zu entdecken.
Wer kreativ denken will, braucht also Inspiration. Und genau an dieser Stelle will das Buch ansetzen. Die Suche nach dem notwendigen, schöpferischen Potential verlangt gerade zu danach, neue Verbindungen zu wagen, etwa die von Wirtschaft und Kultur. Je größer die Konkurrenz auf den Märkten ist, desto intensiver muß sich das einzelne Unternehmen auf die Suche nach dem Neuen machen. Je mehr Kreativität gefragt wird, desto stärker muß das Ungewöhnliche, das Fremde Anstöße zu Ideen geben. Diese Anstöße brauchen die Mitarbeiter. Sie sind die Denker im Unternehmen und vor allem in modernen Volkswirtschaften
Warum also sollte Wirtschaft mit der Kultur des Landes, in der sie sich bewegt, nicht einen offenen Dialog eingehen? Warum öffnen Unternehmer nicht ihre Betriebspforten und lassen Künstler und Kulturschaffende hinein, um deren Gedanken und Ergebnisse eignener Kreativität den Beschäftigten zu präsentieren?
Daß Unternehmen nicht frei von Umwelteinflüssen sind, hat die Wissenschaft bereits in den achtziger Jahren festgestellt. Schnell machte daraufhin der Begriff der Unternehmenskultur die Runde. Gleichzeitig fand auch das klassische Kultursponsoring seinen Höhepunkt: Das Unternehmen finanziert eine Veranstaltung und kassiert dafür positives Image, was sich bestenfalls in den Verkaufszahlen niederschlägt.
Kreativ war dieses Vorgehen zu keiner Zeit; den Mitarbeitern – und damit der Fortentwicklung des Unternehmens – jedenfalls nutzt diese Art des Umgangs mit Kultur nicht. Denn die Kreativität des Künstlers bekommt die Belegschaft nicht zu Gesicht, ja oft wissen sie nicht einmal, was und warum die Firma konkret unterstützt.
Kunst und die Wirtschaft gehören da auf den ersten Blick nicht zusammen. Wer alleine in der Kategorie Geld denkt, muß sogar zu dem Schluß kommen, daß beide Systeme diamtetral zueinander stehen. In diesen Mustern zu denken hilft also nicht weiter. Versprechender ist ein Denkmuster, mit dem sich der im vergangenen Jahr verstorbene Begründer der modernen Systemtheorie, Niklas Luhmann, weltweit enormes Renomée unter den Soziologen und über diese Disziplin hinaus erwarb. Er unterteilte Gesellschaft in soziale Systeme, die alle ihrer eigenen Logik folgen. Danach legt weder Wirtschaft fest, wie sich Kunst entwickelt, noch bestimmt Kunst die Wirtschaftswelt. Das gilt ebenso für die sozialen Systeme Politik, Recht etc. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich geradezu dadurch aus, daß es weder eine Spitze noch ein Zentrum gibt.
Weil in der klassischen Theorie Geld als entscheidender, differenzierender Faktor zugrunde gelegt wird, beharren in der Praxis (aus Angst, doch beeinflußt zu werden) etliche auf der Trennung der scheinbar konträren Bereiche Kunst und Wirtschaft: Künstler, die zwar für alles offen sind, aber auf keinen Fall in materielle Abhängigkeiten geraten wollen; Unternehmer, für die in ihrem Beruf nichts befremdlicher wirkt als Irrationalität.
Daß es doch einen näheren Zusammenhang gibt, obwohl selbst die Moral und Logik der Beteiligten gegen diesen Versuch sprechen, zeigt der bekanntlich genauere zweite Blick. Zunächst die Theorie: Die Leistungsfähigkeit der sozialen Systeme sieht Luhmann vor allem darin, daß sich ihre Kommunikation allein auf sich selber bezieht. In der Politik heißt das Leitbild Macht, in der Wirtschaft ist es die Zahlung. Damit die jeweilige Eigendynamik aber nicht zum Stillstand kommt, finden immer wieder Kontakte mit anderen Systemen statt. Dabei geht es eben nicht darum, daß der eine den anderen instrumentalisiert. Weder bestimmt Politik die Wirtschaft, noch dominiert in der Praxis Wirtschaft die Kunst, noch kann Kunst jemals führenden Einfluß auf Wirtschaft nehmen. Alle können sich aber gegenseitig befruchten, so daß am Ende die durch die Geschlossenheit bedingte Öffnung nicht nur Automobilhersteller, High-Tech-Firmen oder Maschinenbauer hervorruft, sondern sogar geistige Formen einer Kultur AG schaffen kann. Sie konstituiert sich aus dem künstlerischen Potential innerhalb der betrieblichen Leistung , das Teil der Kultur ist.
Dies alles erfordert aber, daß niemand den Kontakt zur Aussenwelt scheut, sich ebenso wenig vor Veränderung fürchtet, ja sie sogar selber befördert, um letztlich voranzukommen. Diejenigen, die genau dies vermeiden – und davon gibt es zu Zeit leider viel zu viele – konservieren und verlieren.
Diese Strategie des Bewahrens ging lange genug gut. Seit einigen Jahren aber überfällt das Neue die Wirtschaftswelt derart, daß sich Ökonomen, Manager und Unternehmer unweigerlich umstellen müssen. Die Wirtschaftstheorie kann derzeit keine praxisnahen Lösungen anbieten. Dafür klammern sich Manager inzwischen an eigens für sie kreierte Moden, die sich verkaufen wie warme Semmeln: „Total Quality Management“ und „Business Reengineering“ oder „Lean Management“ lauten nur einige der Zauberformeln neuer, pseudowissenschaftlicher Literatur, die am Ende in Gegenentwürfen als „Unternehmensführung jenseits der Managementmoden“ (Eileen C. Shapiro) gipfeln. Die Illusion, über derartige Anleitungen Anregungen für das eigene unternehmerische Schaffen zu bekommen, verkehrt ins Gegenteil – Firmen imitieren Trends anstatt eigene zu setzen.
Dafür sehen die Managementriegen der Großkonzerne ihr Heil in Fusionen, um über Größe auf globalen Märkten zu bestehen. Der Konzentration auf die Synergieeffekte folgt oft genug kurze Zeit später die „Konzentration auf die Kernkompetenzen“.
Weniger bekannt sind all jene Unternehmensgeister, die mit dem Begriff „hidden champion“ oder „Entrepreneur“ belegt werden. Sie setzen Originalität gegen Imitation. Ein Beispiel ist die Firma FSB, die sich intensiv mit Design beschäftigt und so die ordinäre Türklinke zu einem Kulturgegenstand entwickelt hat. Modernes Wirtschaftsleben bestimmt sich immer wieder über das Neue. Warum aber kommt es dann nicht zu immer neuen Versuchen?
„Wissenschaft fragt, warum etwas so ist. Kunst fragt nie warum, sie sagt, es ist so oder so, seht oder hört euch doch nur an, wie es ist“, erklärte der Maler August Macke Anfang des 20. Jahrhunderts sein Genre. Künstler beobachten sehr genau, blenden das Bekannte aus und kehren das Abseitige hervor, ganz gleich, ob ihre Darstellung nachher kubistisch, verklärt romantisch oder expressionistisch ist. Sie erkennen Strömungen oft lange vor anderen, sind Avantgardisten und halten der Gesellschaft auf ihre Art den Spiegel vor. Ist es nicht selbstverständlich, daß Manager, Unternehmer und Existenzgründer solche Vorteile nutzen, sich mit Vor- und Querdenkern auseinandersetzen?
Versucht man mit Wirtschaftlern das Thema Kulturförderung zu diskutieren, kommt es häufig schnell zu der Frage: „Wozu nutzt das?“ Alleine die Frage setzt falsch an und deshalb gibt es auch keine befriedigende Antwort. Und doch können alle Gesellschaftsteile und damit auch und vor allem die Wirtschaft Kunst nutzbar machen, auch wenn sich Kunst selber nicht über Nutzen definiert. Dagegen macht sie Angebote, daß man etwas anders machen kann. Sie bietet Alternativen, andere Sichtweisen. Sie macht mit den Worten Luhmanns „die Welt in der Welt“ sichtbar. „Die Kunst weist darauf hin, daß der Spielraum des Möglichen nicht ausgeschöpft ist, und sie erzeugt deshalb eine befreiende Distanz zur Realität.“
Nichts anderes machen Existenzgründer: Sie wagen Experimente und haben oft genug Erfolg. Auf ihnen liegt heute alle Hoffnung, um den Sprung in das nächste Zeitalter zu schaffen. Allerorten werden milliardenschwere Förderprogramme aufgelegt in der Hoffnung, daß schon wenige Jahre später unzählige Arbeitsplätze in sogenannten Zukunftstechnologien entstehen. Existenzgründer haben die Distanz zur Realität, die sie brauchen, um das Neue sehen zu können, so wie der Künstler. Die Kombination von beidem beschreibt Alexander Nicolai. Gründer die ihre Herkunft nicht vergessen und es verstehen, nicht zum Establishment zu werden, haben auch auf lange Sicht den nötigen Erfolg.
Daß die Besinnung auf das Bekannte, auf das Vertraute im turbulenten, ausgehenden 20. Jahrhundert nicht weiterhilft, wissen und sprechen mittlerweile alle aus. Jetzt geht es darum, dieser Einsicht Taten folgen zu lassen. Eine Welt in der Welt zu erkennen und für sich zu erobern kann dabei eine intelligente Form der Kunstförderung sein, fern ab des überkommenen Kultursponsorings der achtziger Jahre. Dieses Buch will einige Anregungen dazu geben.
Daniel Delhaes im Dezember 1998