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Der Blick hinter die Kulissen – Die Welt der Medien

Ulrich Baron: Robinson-Island Ltd.

Oder: Der einsame Unternehmer

  Das Buch war ein Welterfolg. Und es wurde erfolgreich kopiert. Schon bald nach seinem Erscheinen im Jahr 1719 ins Deutsche übersetzt, löste Daniel Defoes „The Life ans Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe of York. Mariner“ hierzulande eine beispiellose Welle an Nachahmungen aus: Dutzende, bald hunderte von „Robinsonaden“ oder eilends mit einem „Robinson“-Titel neu aufgelegte Werke suchten Deutschland „gleich einer wütenden Pest“ heim, wie ein zeitgenössischer Beobachter empört feststellte.

Hatte ein Jahrhundert zuvor der „Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ seine Reise durch das vom Krieg verheerte Europa auf einer fernen, einsamen und also friedlichen Insel beendet, so träumten nun Generationen von Lesern vom Robinson-Dasein fernab von Unrast und Alltagssorgen. Der „Robinson Crusoe“ wurde zum Inbegriff der Fluchtphantasie, Robinsons Insel zum Traumziel der Eskapisten. Welch ein Mißverständnis. Welch ein deutsches Mißverständnis, denn von Flucht kann bei diesem Buch nicht die Rede sein. Und wenn Robinsons Insel vielen als Paradies erschienen ist, so ist sie doch eigentlich das Paradies eines geborenen Projektemachers, eines phantasievollen Unternehmers, der die Früchte seiner Anstrengungen freilich nicht in klingende Münze umsetzen kann.

Daniel Defoe (1660-1731) war als selbständiger Unternehmer zwar nur bedingt erfolgreich – er machte 1692 mit seiner Handelsfirma Bankrott und mußte kurz vor seinem Tod noch einmal vor Gläubigern fliehen – als Schriftsteller und politischer Pamphletist brachte er es jedoch bis an den Pranger und bis zum Weltruhm.

Sein bekanntestes Werk ist nicht nur eine spannende Abenteuergeschichte, der „Robinson Crusoe“ ist auch die Geschichte eines Unternehmers im Garten Eden. Nur hat dieser Garten einen gravierenden Fehler: Er ist vom Handel und damit vom Markt vollkommen abgeschnitten; ein Musterländle, dessen florierende Wirtschaft keinen Pfennig Gewinn abwirft.

Angesichts der verschwenderischen Fülle seiner Insel, angesichts ihrer Kakao-, Orangen-, Limonen- und Zitronenbäume, angesichts der reichen Traubenernte fühlt Robinson sich als ihr legitimer Besitzer, der nicht nur ihre Früchte, sondern am liebsten gern das ganze Eiland nach England versetzt hätte.

Denn eigentlich ist Robinson Kaufmann, einer jener „Merchant Adventurers“, kaufmännischer Abenteurer, die, unter Einsatz ihres Lebens und ihres Kapitals, oft auf einer einzigen langen Reise zwischen der alten und der neuen Welt den soliden Grundstock für gewaltige Familienvermögen legten. Oder alles verloren, so wie Robinsons unglückliche Reisegefährten, die im Sturm zugrunde gingen – Risikokapitalisten ihrer Tage.

Robinson Crusoe jedoch hatte schon einige schwere Wetter und eine Zeit in der Sklaverei hinter sich und setzte nicht alles auf eine Karte. Bevor er zu jener fatalen Handelsfahrt aufbrach, die ihn für 27 Jahre an seine Insel fesseln sollte, hatte er in Brasilien investiert, genug, um schließlich als reicher Mann nach England zurückzukehren. Und auch seine Insel hat er nun beim allerersten Mal mit leeren Händen betreten.

Schon bald nach der Entdeckung, daß sein Schiff zwar gestrandet, die Ladung aber weitgehend wohlbehalten ist, verwandelt er sich in einen Transportunternehmer, der ein riesiges Warenlager an Land schafft. „I had the biggest maggazin of all kinds now that ever were laid up, I believe, for one man“, stellt er fest. Genug, um damit eine ganze Kolonie auszurüsten – und das, so folgerte der Pädagoge Joachim Heinrich Campe, sei nun wirklich zuviel des Guten.

Dadurch nämlich, so Campe in seiner „kindgerechten“ Version „Robinson der Jüngere“ (1779), gehe „der große Vortheil verloren, dem jungen Leser die Bedürfnisse des einzelnen Menschen, der außer der Gesellschaft lebt, und das vielseitige Glück des gesellschaftlichen Lebens, recht anschaulich zu machen.“ Konsequenterweise hat Campes Robinson deshalb auch „zu seiner Erhaltung nichts, als seinen Kopf und seine Hände“, mit denen er dann einige erstaunliche und pädagogisch gewiß gutgemeinte Dinge vollbringt.

Schlimmer jedoch hätte man Defoe und die Wirklichkeit wohl kaum mißverstehen können. Der Schöpfer des „Robinson Crusoe“ nämlich kannte unter anderem das Schicksal des Schotten Alexander Selkirk, der von 1704 bis 1709 allein auf einer Insel verbracht hatte. Und er wußte deshalb, daß Kopf und Hände allein in solcher Situation zur Erhaltung zivilisatorischer Standards keinesfalls ausreichen. Zwar kleidet er seinen Schiffbrüchigen wie Selkirk in Ziegenhäute, doch stattet er ihn zusätzlich aus wie ein Ein-Mann-Kolonialunternehmen. Denn Robinsons Insel ist eine Art Schaubühne für unternehmerische Initiativen.

Defoes Robinson Crusoe braucht die verschiedenen „Zivilisationsstufen“ gar nicht nachzuvollziehen, die manche Interpreten in diesem Buch ausgemacht zu haben glauben, denn er hat es ja bereits bis zum Kaufmann gebracht. Er soll sie auch gar nicht ab ovo nachvollziehen, er muß vielmehr alle Berufe einer arbeitsteiligen Gesellschaft in sich vereinen. Deshalb arbeitet er bei Defoe als flößender Transportunternehmer, als Schiffsbauer, als Feldarbeiter und Ziegenzüchter, er töpfert und schreinert, und weil er sich von Wilden und Krankheiten bedroht fühlt, wird er schließlich gar zum Festungsbauer und Landhausbesitzer. Ganz nebenbei hütet er sein Waren- und Waffenlager, mit dem er am Ende eine Miniaturarmee ausrüstet.

Mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen und seiner tatsächlichen Arbeitskraft hat dies alles wenig zu tun. Kein Mensch könnte Robinsons überdimensionierte Wirtschaft tatsächlich allein betreiben. Die Festung, die Robinson sich baut, würde einen Gegner nur anlocken, und ihr einziger Soldat würde nur solange Widerstand leisten können, bis ihm die Augen zufallen.

Der „Robinson Crusoe“ ist hier – bei aller Anschaulichkeit – gar nicht realistisch, sondern vielmehr ein Modell, eine literarische Schulung unternehmerischen Denkens. Ganz auf sich und Gottes Hilfe gestellt, betreibt Robinson eine expandierende Ein-Mann-Volkswirtschaft, für die dringend Teilhaber gesucht, aber zunächst nur in Freitag gefunden werden. Er vegetiert nicht am Existenzminimum, wie die meisten der wirklichen Schiffbrüchigen, er entfaltet seine Talente, steigert seine Produktivität, optimiert seine Arbeitstechniken soweit wie möglich. Gerade das mag seinerzeit viele seiner deutschen Leser – eingezwängt in Duodezfürstentümer und Ständegesellschaft – fasziniert haben. Robinson gestaltet sein Leben, er gestaltet auch seine Umwelt und – wäre sie vorhanden – er würde auch seine Gesellschaft gestalten.

Schon gut zwei Jahrzehnte vor dem Erscheinen des Romans hatte sich Robinsons Schöpfer auf einer anderen und keineswegs einsamen Insel mit zukunftsträchtigen Unternehmungen beschäftigt. Unter den rund 500 Veröffentlichungen des Multitalents Defoe findet sich auch der „Essay on Projects“ von 1697, der zahlreiche detaillierte Vorschläge enthält, wie man Großbritanniens Wirtschaft zum Blühen, wie man Armut und Armutskriminalität bekämpfen könnte.

Defoe rechnete darin vor, wie man durch die Einrichtung einer kapitalkräftigen Nationalbank und eines landesweiten Filialsystems Investitionen erleichtern und unternehmerische Risiken mindern könnte. Er projektierte einen konsequenten Ausbau des Straßenwesens, für den das Kapital unter anderem durch die Vergabe des Gemeindelandes aufgebracht werden könnte, das die Landstraßen säumt. Die Armen, die bislang hier ihr Vieh geweidet hätten, wie auch Verbrecher aus Not könnten bei Bau und der Erhaltung des verbesserten Wegenetzes ein gesichertes Einkommen finden.

Daneben plädierte Defoe in seinem Essay für die Ausweitung des Versicherungswesens, die Gründung von Versorgungskassen, die Einrichtung von Akademien und Handelsgerichten – all dies Unternehmungen, die eine „Vervollkommnung des Handelsverkehrs, Beschäftigung der Armen, Umsatz und Vermehrung des Staatsvermögens bezwecken“, wie er einleitend versichert.

Keines dieser Projekte kann für sich als seine originäre Leistung Defoes gewertet werden, vieles lag im England des ausgehenden 17. Jahrhunderts gewissermaßen „in der Luft“. In ihrer Gesamtheit jedoch spricht aus ihnen ein unternehmerisches Denken das nicht nur auf Gewinnmaximierung, sondern auch auf gesellschaftlichen Gesamtnutzen zielt.

Defoes Vorschläge setzen auf die Dynamik einer produktiven sozialen Integration. Indem etwa Seeleute und EhefrauenVersorgungskassen gründeten, sollten sie nicht nur sich selbst und die Gesellschaft vor den Folgen von Arbeitsunfähigkeit und Witwenschaft absichern, sondern auch mit dem wachsenden Kapital dieser Kassen neue Investitionen fördern.

Der Roman ist zwar keineswegs die direkte literarische Umsetzung solcher Vorschläge. Doch wenn im zweiten Teil die Insel richtiggehend kolonisiert wird, dient diese Arbeit auch zur Resozialisation einiger Bösewichte, die im England Defoes längst am Galgen gehangen hätten. Nur übersieht man dies allzuleicht angesichts des Pulverdampfes und der großen Schlachten mit den Kannibalen, die das Buch außerdem noch entfaltet.

Auf subtile Weise und quasi durch das Kinderzimmer führte der „Robinson Crusoe“ damit ein neues Denken ein, bei dem ökonomische Rationalität und gesellschaftliche Verantwortung Hand in Hand gehen. Ein Welterfolg, wie gesagt; nicht nur für einsame Inseln geeignet.

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