Norbert Bolz: Die Kultur der Wirtschaft
Sponsoring heißt: Unternehmen kommunizieren nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Haltungen. Mit anderen Worten, Sponsoring ist die Selbstdarstellung der Wirtschaft im Medium der Kunst. Sponsoren sind die modernen Nachfolger der Mäzene. Und Mäzenatentum, also die Förderung der Kunst durch Reiche und Mächtige, ist wohl so alt wie die Kunst selbst. Nur in der vergleichsweise kurzen Zeitspanne der Moderne, also zwischen Baudelaire und Beckett, war der Mäzen nicht nur ein Helfer, sondern auch ein Problem des Künstlers. Die kritische Avantgarde der modernen Kunst definierte sich nämlich polemisch gegen „den Markt“. In der Moderne war Kunst deshalb eine paradoxe Ware: sie war gegen den Markt, auf dem sie doch verkauft wurde. Alles andere wurde als affirmative Ästhetik und machtgeschützte Innerlichkeit denunziert. Resümiert wird diese Einstellung von Adornos Begriff der „Kulturindustrie“, der immer noch in den Köpfen kritischer Kulturdezernenten und Museumsdirektoren herumspukt.
Doch heute haben wir diese „kritischen“ Moderne schon weit hinter uns gelassen. Die Künstler wechseln vom Elfenbeinturm in den Kontrollturm. D.h. die künstlerische Avantgarde ist nicht mehr das schlechte Gewissen der Gesellschaft, sondern eher die F+E-Abteilung der Wirtschaft. So wird Ästhetik zur neuen Leitwissenschaft. Postmoderne Kunst ist unsere Schule des Umgangs mit Schein, Fiktion und Simulation. Das zeigt sich natürlich vor allem in der Werbung, die Michael Schirner schon vor Jahrzehnten als die eigentliche Kunst unserer Zeit kenntlich gemacht hat. In der Werbung wird heute der ästhetische Geist der Differenz gepflegt und Konsum als hohe Kunst betrachtet. So entsteht die Medienwirklichkeit der Wirtschaft. Jede Werbung ist ja ein Diskurs über den Sinn des Konsums. Und gute Werbung zeigt, daß Kunst heute nicht mehr die Kritik der Gesellschaft, sondern die Kultur der Wirtschaft stimuliert.
Was ist Kultur? Wenn man die Fördermittelverteilung der Kulturbeauftragten westlicher Länder – und natürlich vor allem in den USA – beobachtet, kommt man zu dem Schluß: Alles. Neben vertraute Bereiche wie die Ess-Kultur sind ganz neue Bereiche getreten – wie z.B. die Fußball-Kultur. Und gerade an diesem Beispiel sieht man sehr schön, inwieweit Kultur heute immer Kultur der Wirtschaft ist. Der Fußballverein tritt nämlich als Marke auf: Schal, Chips und Schnuller vom BVB, Kugelschreiber, Mütze und Sarg von Bayern München. Das sind deutliche Symptome für eine Allgegenwart des Marketing. So ist Kultur-Marketing längst nicht mehr nur Sache der Goethe-Institute, die – Kultur als Exportschlager – feine Kulturwaren wie Pina Bausch, Jürgen Habermas und neuerdings Techno als deutsche Botschafter durch die Welt schicken. Jeder Oberbürgermeister hat heute die Bedeutung des Stadt-Marketing begriffen und schickt Trendnasen auf die Suche nach dem Markenkern von – z.B.: Essen.
Stadtmarketing kann zunächst einmal an das vertraute Kultmarketing der Konsumwirtschaft anschließen. Der ideale Schauplatz des Kultmarketing ist der Konsumtempel. In Essen wirbt ein Kaufhaus mit der wunderbar kontrafaktischen Formel: „Kein Kaufhaus. Weltanschauung.“ Die peripheren Einkaufszentren verwandeln sich in Schauplätze einer Wiederverzauberung der Welt, nach der wir uns gerade deshalb sehnen, weil jede Spur von Magie, Aura, Charisma und Zauber aus unserem aufgeklärten Alltag getilgt ist. Von der Mall of America bis zum Centro Oberhausen, von Nike Town in Chicago bis zum UNO Shopping in Linz – die Botschaft ist klar: Kaufen soll eine soll ein magisch-religiöses Ritual werden. So kehren die Warenhäuser heute wieder an ihren Ursprung zurück: die Pariser Passagen waren die ersten Kathedralen des Konsums.
Und man kann noch tiefer loten. Es gibt eine Strukturverwandtschaft zwischen Marktplatz, Spielplatz und religiösem Kultort. Johan Huizinga bemerkt dazu in seinem Buch „Homo Ludens“: „Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d.h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten.“ Und das gilt eben auch für die amerikanischen Malls oder die japanischen Konsumtempel. Shopping und Reisen haben eigentlich dieselbe Wunschstruktur, und Florian Coulmas hat die Pilgerfahrt zum Kaufhaus als eine Art Inlandstourismus kenntlich gemacht. Zumal in Japan werden die Kaufhäuser zu Tempeln – und die Tempel zu Kaufhäusern. „Diese Tempel bieten nicht nur dem Käufer Waren aus aller Welt an, sie beherbergen auch Museen und Galerien, Wandelgänge und Dachgärten sowie Stätten der Erquickung für den müden Wanderer.“
Das Urban Entertainment Center auf den Stuttgarter Krautwiesen markiert am deutlichsten die Paradoxie des Konsumtempels: er ist nicht eigentlich urban, sondern eine hochartifizielle Schöpfung aus dem Nichts, und liegt auch nicht im Zentrum der Stadt, sondern weiß draußen. „Center“ ist es als Bündelung von Konsum- und Ereignischancen, als Architektur der „Mehrwerterlebnisse“, in die man vor der häuslichen Langeweile flieht. Und „urban“ ist es als kulturell angereicherte Shopping-Landschaft. Denn das Entertainment Center will mehr bieten als die Mall – es ist auf die postmoderne Wirtschaft des Unsichtbaren hin konzipiert. Um es mit den genauen Worten Christian Marquarts zu sagen: „Weil man nicht nur in materielle Dinge investiert, sondern vor allem in die eigene Freizeit, verschiebt sich ganz beiläufig auch das prekäre Verhältnis von Haben und Sein.“
So lautet unser erstes Zwischenfazit: Konsum tritt heute als Kultur, Shopping als Lebensform und Business als Kunst auf. Es ist deshalb gar nicht so leicht, die Frage zu beantworten: Was unterscheidet Kultur? Obwohl jede Kultur einen eigenen Begriff von Kultur hat, läßt sich immerhin mit Talcott Parsons sagen, daß Kultur als „latent pattern maintenance“ funktioniert. Sie ist das Repertoire von Kommunikationsthemen. Man könnte auch sagen: Kultur ist die Welt der Bedeutsamkeit – im Gegensatz nicht nur zum grauen Alltag, sondern auch zur Wissenschaftswelt. Und obwohl die Evolution der Kultur opportunistisch ist, kann man doch eine Vermutung über die Richtung wagen, in der unsere Kultur diese Bedeutsamkeit suchen wird. Das Ergebnis der Weltraumfahrt war bekanntlich die Rückwendung zur Erde. Das Ergebnis der „Multikulturalität“ wird die Rückwendung zur europäischen Kultur sein. Erst zentrifugal, dann zentripetal.
Je mehr die Wirtschaft zu einer Wirtschaft des Unsichtbaren wird, desto mehr muß sich ein Unternehmen durch seine Kultur definieren. Den Begriff selbst gibt es schon lange: Corporate Culture. Damit ist eine Aufgabe definiert, die man als „impression management“ (E.Goffman) von Unternehmen näher bestimmen könnte. Dieses „impression management“ der Wirtschaft hat zwei unterschiedliche Dimensionen. Zum einen geht es darum, Kultur als Medium der Koevolution von Unternehmen und Kunden zu verstehen. Wie Wirt und Parasit irritieren und belehren sich Kunden und Unternehmen gegenseitig. Die zweite Dimension wird durch das schöne Wort vom Caring Capitalism bezeichnet: Die Wirtschaft nimmt sich der Weltprobleme an. Während das Managerial Marketing auf Profit zielt, zielt das Social Marketing auf Werte. Das System des Profits wird gleichsam durch öffentliche Verantwortung „temperiert“. So treten Großunternehmen zunehmend als quasi-politische Institutionen auf, z.B. als Treuhänder der Bildung.
Kunst ist für die Wirtschaft also sehr viel mehr als nur ein Ornament am Rande der eigentlichen Produktion, etwa ästhetische Aufheiterung der Sparkassenschalterhallen durch abtrakte Malerei oder Junge Wilde. Unternehmen, die Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen, entwickeln heute nicht nur eine ökologische Sensibilität für die Belastungen der Natur, also für die Folgelasten des eigenen Wirtschaftens. Das Kulturprogramm eines Unternehmens ist eine Art Umweltschutz für die Zweite Natur, also für die Welt des Geistes. Und dieses Engagement hat heute nichts Humanistisch-Betuliches mehr. Wenn die Welt nämlich polarisiert ist nach dem Schema Benjamin Barbers: Dschihad vs. McWorld, also Fundamentalismus gegen den American Way of Life, dann steht jedes Unternehmen nolens volens in diesem Kulturkampf.
Aber auch nach innen braucht ein modernes Unternehmen Kunst und Kultur. Denn was kann mit den Zauberwörtern der sogenannten Unternehmensleitbilder, Vision und Mission, gemeint sein? Wer eine Vision hat, sollte zum Arzt gehen, sagt Thomas Bernhard. Und diese Mahnung sollte man ernst nehmen. Nicht jede Vision weist in die Zukunft, und daß im allgemeinen Psychiater für sie zuständig sind, macht deutlich, daß Visionen die Fesseln des Realitätsprinzips abgestreift haben. Doch zuweilen muß man es eben riskieren, die Bodenhaftung zu verlieren, um realitätstüchtig zu bleiben. Solche Visionen haben für Unternehmen zwei Funktionen: sie faszinieren die Mitarbeiter und sie nehmen die Angst vor der Zukunft. Man könnte prinzipiell sagen: Wahrheit wird erträglich durch Geschichten, Herkunft wird erträglich durch Interpretationen, Zukunft wird erträglich durch Visionen.
Wenn sich heute die Hierarchien in den Unternehmen abflachen, gibt es keine Positionen mehr, von denen aus man einen Überblick hat – deshalb der immer lauter werdende Ruf nach Visionen. Der Organisationssoziologe Karl Weick hat das auf die prägnante Formel gebracht: „people coalesce around simple, absolute ideas“. Ein Team kristallisiert sich an einfachen, freischwebenden Ideen. Deshalb scheint mir Nietzsche Definition der Vision als „tiefer geistiger Störung“ am fruchtbarsten zu sein. Denn die Vision soll dem Unternehmen aus der paradoxen Lage heraushelfen, daß das, was Innovation und Fortschritt blockiert, von innen nicht zu sehen ist. Jedes System hat einen blinden Fleck, und der Philosoph J.R.Lucas hat die paradoxe Operation, aus dem System herauszuspringen, um auf es innovativ einzuwirken, „Gödelizing“ genannt.
Meine These lautet nun ganz einfach: Die Gödelisierung der Wirtschaft, also die Bekämpfung ihres blinden Flecks, leisten erfolgreiche Unternehmen durch den Bezug auf Kunst. Mit anderen Worten, Kunst ist die geistige Störung der Wirtschaft, die es ihr ermöglicht, aus dem eigenen System herauszuspringen und Neues zu tun. Die Vision verdankt sich also einer Irritation. Unternehmen brauchen die Kunst, um das Staunen zu lernen. Und Staunen heißt, sich irritieren lassen. Wer diesen Sprung aus dem System heraus nicht wagt, wird sich immer wieder über die Verrücktheit des Neuen ärgern. Die Innovation hängt tatsächlich an Lunatics, an Spinnern – und das ist von jeher die Domäne der Kunst.
Scott Kim hat einmal gesagt: „Nothing locks in assumptions like seriousness.“ Gerade ernsthafte Menschen sind die Gefangenen ihrer Vorurteile. Ihre Ernsthaftigkeit hindert sie daran, aus dem System ihres Betriebs herauszuspringen und es von außen zu betrachten. Serious Business ist eine Selbstblockierung. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, müssen die Geschäftsleute lernen, über das Verhältnis von Arbeit und Spiel neu nachzudenken. Nur spielerisch nämlich kann man die eigene Komplexitätsempfindlichkeit steigern. Jedes Spiel ist „deliberate complication“ (Stephen Miller), absichtsvolle Steigerung der Komplexität. Und das gelingt am besten in der Kunst; sie ist ein Deep Play im Sinne von Jeremy Bentham, also ein Spiel, das die tiefsten Leidenschaften entfesselt.
Das meinte wohl auch Doug Tompkins von Esprit mit seinem provozierenden Wahrspruch: „Life is entertainment, survival is a game.“ Dieses Überlebensspiel hat für Managment und Marketing den paramilitärischen Jargon bis zum heutigen Tag wohl so attraktiv gemacht. Doch ich meine, die Wirtschaft ist in diesen militärischen Metaphern geistig gefangen. Vielleicht befreit sie sich daraus durch den Kontakt mit Kunst: Business Art ist ein alter Begriff von Andy Warhol, der noch eine große Zukunft vor sich hat. Der erste Schritt, das Geschäft als Kunst zu begreifen, würde wohl darin bestehen, vom Organisationsmodell der Armee Abschied zu nehmen und den Manager etwa als Dirigenten eines hochqualifizierten Orchesters verstehen.
Business Art ist möglich, weil es eine Strukturverwandschaft von Wirtschaft und Kunst gibt: Der Andere handelt – und das/daraufhin erlebe ich. Der Andere zahlt, und ich muß dann erleben, daß er auf ein knappes Gut zugreift, das mich auch interessiert; z.B. die Dachterassenwohnung. Der Künstler stellt seine Plastik auf, und ich darf/muß dann erleben, wie sich der öffentliche Raum wandelt. Und auch wenn man die Perspektive umkehrt, zeigt sich eine verblüffende Strukturverwandtschaft: Man muß beobachten, wie das eigene Angebot beobachtet wird – das gilt für Wirtschaft und Kunst gleichermaßen. Doch während die Beobachtungen in der Wirtschaft immer wieder auf das Problem der Knappheit (des Geldes oder der Kunden) hinweisen und deshalb irritieren, ist Kunst das einzige System, das durch Beobachtung nicht gestört, sondern gesteigert wird. Kunst steuert Beobachtungen. Die Wirtschaft kann von der Kunst lernen, daß man eine Unterscheidung braucht, um etwas zu beobachten – und daß es zufällig ist, wie man unterscheidet. Diese Zufälligkeit reflektiert dann der Eindruck, die Welt sei unübersichtlich.
Wir können jetzt die wesentlichen Leistungen, die die Kunst für die Kultur der Wirtschaft erbringt, resümieren:
* Kunst schult im Unterscheiden. Sie kultiviert die Urteilskraft als aktiven Geschmack.
* Kunst verspricht: Es gibt ein Jenseits der Zerstreuung. Mag die Welt zufällig sein – das Kunstwerk ist notwendig. Kunst ist die Ablenkung von den Ablenkungen.
* Wie die Liebe ist die Kunst ein Medium, das sich der Technisierung weitgehend entzieht. Deshalb ist sie das ideale Asyl des Ich.
* Wie alle Lunatics haben Künstler empfindliche Antennen für Störungen im Medium Kultur. Deshalb kann die Kunst der Wirtschaft als Frühwarnsystem dienen.
Im griechischen Wort „agalma“ – wörtlich: ein Standbild, das Götter erfreut – ist noch der ursprüngliche Zusammenhang von Kult, Kunst und Spiel festgehalten. Das hier sich eröffnende semantische Feld, nämlich Jubeln, Prunken und Feiern, wird heute wieder von der Kultur der Wirtschaft besetzt. Das ist ein Vorgang von nicht zu überschätzender Tragweite. Denn noch in den späten 70ern wäre nichts unmöglicher gewesen als ein Lob des Lobens.
Heute sind Dichter wie Rainer Maria Rilke und Ernst Jünger wieder aktuell, die die Kunst als Lob des Seins verstanden haben. Und die Gewißheit Peter Handkes, Kunst sei immer „kindliche Kunst“, erscheint nach den Jahrzehnten des ästhetischen Negativismus plötzlich wieder plausibel. In Handkes Tagebuch „Am Felsfenster morgens“ wird Kunst als „höchste Schonung“ definiert. Der Mut des Dichters besteht demnach im Lob des Lobens. „Beschreiben ist gutheißen“. Der wahre Schriftsteller versteht sich als „Diener des Sichtbaren“ und sein Schreiben als eine Form des Verehrens. Wir können daraus schließen, daß nach der Zeit der kritischen, ja schwarzen Moderne und den verzweifelten Versuchen einer Politisierung der Kunst heute die affirmative Kultur triumphal zurückkehrt.
Dieser Prozeß beschränkt sich nicht auf Gedichte und Bilder. Der Philosoph Gernot Böhme bemerkt: „Es geht um die Inszenierung der Waren und um die Selbstinszenierung der Menschen. Es geht um die Inszenierung von Politik, die Selbstinszenierung von Firmen. Es geht um die Inszenierung ganzer Städte, ja des großen kapitalistischen Festes als solchem.“ Und das wird nirgendwo deutlicher als in der Kultur der Festivals, dieser Spitzenleistung des Stadt-Marketing. Das Festival ist für eine Stadt das „Organ des Sich-Zeigens“ (A.Portmann) – es funktioniert also ähnlich wie Mode und Kosmetik bei Frauen.
Der große Erfolg der Festivals muß zunächst schon einfach deshalb erstaunen, weil sich hier ein Massenpublikum der sogenannten E-Kultur, also eigentlich schwerverdaulicher Kost, aussetzt. Wie man berechtigte Zweifel haben kann, ob das Kaffeekränzchen aus Wanne-Eickel wirklich etwas sieht, wenn es durch die Gauguin-Ausstellung geschoben wird, so darf man bezweifeln, daß die Bayreuth-Pilger aus Indiana wirklich „Wagner“ hören, wenn sie sich sechs Stunden auf den unbequemen Sitzen quälen. Um den Erfolg der Festivals zu verstehen, muß man Kunst als Placebo begreifen – sie wirkt auch, wenn man nichts versteht. Doch welche Wünsche werden hier erfüllt? Was ist der Placebo-Effekt der Kunst?
Hier hilft ein Begriff des amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt weiter: „second-order desires“, also Wünsche zweiter Ordnung. Man möchte anders sein als man ist und wünscht sich deshalb andere Wünsche, z.B. ins Theater zu gehen. Wie schön wäre es, wenn ich jemand wäre, dem die Musik von Schönberg gefällt! Solche „second-order desires“ zielen vor allem auf den spirituellen Mehrwert der Kulturwaren, und da es sich dabei um Luxusgüter handelt, können wir beobachten, daß die Wirtschaft des Unsichtbaren einen Luxus zweiter Ordnung bietet. Der Luxus der Zukunft wird ein unsichtbarer Luxus sein.
Wir sagten, das Festival sei die Kosmetik der Stadt, ihr Organ des Sich-Zeigens. Und dazu paßt Hegels Definition des Festes als lebendiges Kunstwerk. Doch als lebendiges ist das Kunstwerk nicht mehr nur ein Element der modernen, säkularen Kultur. Vielmehr ist die Konjunktur der Festivals ein deutliches Symptom dafür, daß wir heute auf dem Rückweg von der Kultur zum Kult sind. Wenn das zutrifft, muß die Diagnose lauten: Die Säkularisierung der Kunst war nur eine Episode; sie tritt heute wieder in eine Art Gottesdienst ein. Und in der Tat trägt der Kulturtourismus längst Züge einer religiösen Pflichtreise – also einer Wallfahrt. Vom Wallfahrer kann man aber etwas Entscheidendes über das Erfolgsgeheimnis der Festivals lernen: Kosten können einen Eigenwert gewinnen, wenn der Weg mit dem Ziel zusammenfällt. Das gilt für den Pilger, das gilt für den Jogger, das gilt für den politisch Engagierten – und eben auch für den Kulturtouristen.
Um die Festivals historisch und strukturell zu verstehen, muß man sie wohl in einer Linie mit den prunkvollen Ostentationen des Barock und mit den Bühnenweihfestspielen Richard Wagner in Bayreuth sehen. Das Festival ist Spektakel, Event und Ritual zugleich. Als Spektakel befriedigt es die Schaulust und Neugier; als Event beschwört es die Aura des Einmaligen; als Ritual suggeriert es Sinnstiftung. Und in der Tat können wir sagen: Das Festspiel ersetzt die Religion. So war es schon Richard Wagners Credo, „daß da wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten“. Wagners Gesamtkunstwerk verstand sich als Gottesdienst der „Religion der Zukunft“. und nicht anders lautet das Selbstverständnis heutiger Zeremonienmeister. So hat Andrè Heller seine magischen Inszenierungen unlängst als „Hochämter der Verblüffung“ definiert. Das heißt im Klartext: Das Festspiel bietet präparierte, konfektionierte Transzendenzerfahrung.
Damit bedient die Festival-Kultur ein zutiefst mystisches Bedürfnis. Denn Mystik heißt ja nichts anderes als reden, worüber man nicht reden kann. Mystik benutzt also Inkommunikabilität, um Kommunikation anzuheizen. Was ist nun daran so faszinierend? Mystisch ist die Ganzheitserfahrung von Welt – und zwar gegen die Unterscheidungen, die die Welt verletzen. Das ist der logische Ort jeder Esoterik, die man als Markenname des reinen Unterschieds zum Vertrauten definieren könnte. Und in dieser Welt des reinen Unterschieds zum Alltag gibt es dann keine Unterschiede mehr. So charakterisiert H.Tellenbach die mystische Erfahrung als „affektive Verschmelzung“ und „atmosphärische Überflutung“. Und genau das bietet heute das Festival. Deshalb schadet es auch nichts, wenn die Besucher gar nicht verstehen, worum es sachlich geht. Mystik ist nämlich Mitteilung ohne Information: Man kann hier nur verstehen, was man erlebt hat. Für den Teilnehmer des Ereignisses war es dann „ein Erlebnis“. Für den Parsifal in Bayreuth gilt dasselbe wie für das Bungee-Springen von der Eisenbahnbrücke: „Das muß man einfach mitgemacht haben!“
Jedes Festival knüpft an die uralte Erfahrung des Festlichen – und die war schon immer doppeldeutig. Denn zum einen ist das Fest ein Ausdruck der Gegenkultur, deren Extremwert der dionysische Exzeß ist. Jedes Fest ist ein „Fest für das Ich“, weil hier das Gesetz gebietet, die gesetzlichen Gebote zu durchbrechen. Jedes Fest verdeckt also die Paradoxie, daß es sich um einen „vom Gesetz gebotenen Exzeß“ (Freud) handelt – man denke nur an den Karneval und die obligatorische Besetzung der Rathäuser. Zum andern aber ist das Fest ein Ausdruck der Zustimmungskultur, also ein Medium apollinischer Affirmation. Deshalb konnte Josef Pieper das Fest als „Zustimmung zur Welt“ deuten – und damit stellt es heute den Gegenpol zur kritischen Bewußtseinskultur dar. Mit anderen Worten, das Fest ist die Kultform einer „Religion der Freude“ (Richard Harder).
Doch ob apollinisch oder dionysisch – das Fest ist immer die gelungene Entlastung vom Alltag, der kultivierte Ausnahmezustand. Insofern steht es in einer Reihe mit Phänomenen wie Ferien, Party und Virtual Reality. Stets handelt es sich um ein Spiel mit der eigenen Identität und dem Alltag. Der Ägyptologe Jan Assmann meint deshalb: „Das Fest ist ein „Heterotop“ in der Sinnwelt einer Kultur.“ Was aber, wenn dieser fremde Ort des Sinns auf immer mehr Schauplätzen beschworen wird? und in der Tat kann man die Postmoderne als die Paradoxie eines permanenten Ausnahmezustandes begreifen – als das Projekt einer Verfestlichung des Alltags um den Preis einer Inflation der Events. Denn immer mehr Kunden suchen die Selbstverwandlung im Fest: man macht sich schön, geht in die Oper und dann gut essen. Das genügt meist schon für den Ausnahmezustand der Seele. Die Festgemeinschaft feiert sich selbst: ob beim Opernball in Wien oder mit La Ola im Stadion. Für das Fest gilt tatsächlich: Dabeisein ist alles!
Der Volksmund weiß: Man muß die Feste feiern wie sie fallen. Denn das Fest ist seine Feier, und man feiert es, weil es da ist. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat das auf die schöne Formel gebracht: „Die Zeiterfahrung des Festes ist die Begehung“. Jedes Fest hat eine feste Frist – und das macht es enttäuschungsfest. Prinzipiell gilt ja, daß kurzlebige, befristete Güter enttäuschungsfest sind: Bier, Wochenendreise, Fußballspiel. Auch das Festival ist enttäuschungsfest, denn es ist voraussetzungs- und folgenlos. Es gehört damit zu den von Helmut Schelskys so genannten sekundären Institutionen, die das folgenlos Subjektive kultivieren. Deshalb ist das Feuerwerk der Inbegriff des Events: es kommt aus dem Nichts, erstrahlt und verpufft. Das Ereignis muß heute gerade folgenlos sein: ein „self-enclosed event“ im Sinne von Zygmunt Bauman.
Nun könnte man einwenden, daß meine Beschreibung des Zeitalters der Feste gerade die entscheidenden Unterschiede verschleißt, nämlich zwischen Ereignis und Event, zwischen Offenbarung und Spektakel – und eben zwischen Fest und Festival. Aber ich meine, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten läßt sich das Verhältnis dieser Begriffe nun genau bestimmen. Spektakel und Event sind Inszenierungsformen, die deutlich machen, daß man das Festival als „framing“ des Festes verstehen muß. In diesem Rahmen kann man die enklavierten großen Gefühle kultivieren. Wie der Sport bietet das Festival ein „containment of excitement“. Man erregt sich in den Grenzen der Spielzeit. Denn die leidenschaftlichen Gefühle passen nicht mehr in unsere Welt. Und gerade deshalb hat das Emotional Design Hochkonjunktur. Es gestaltet die Marke als Medium der heimatlosen großen Gefühle. Im Blick auf unser Thema bedeutet das aber: Das große Festival ist eine Kultmarke.
Doch was macht ein Festival zur Kultmarke? Emotional Design und Kultmarketing brauchen hier einen soliden Bezugspunkt: den Star. Seine Reputation ersetzt die Qualitätsmaßstäbe. Was Ph.Kotler „designing persons for stardom“ genannt hat, ist das tiefste Betriebsgeheimnis der Kultur der Wirtschaft. Der Zauberapparat des Marketing muß Berühmtheiten gestalten. Und wer hier erfolgreich sein will, sollte Shaws Pygmalion lesen; es ist der Schlüsseltext für celebrity design. Stars machen ästhetische Urteilskraft überflüssig. Die 3 Tenöre oder die Rolling Stones – es spielt keine Rolle, ob sie gut singen. Stars und Klassiker ersparen uns Kompetenz. Man kann sicher sein: Was sie bieten, ist Kultur.